siebenundzwanzig

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Mikko, der immer noch in der Wohnung von Samu war, zog die Tür hinter sich zu und stürzte sich die Treppe herunter und setzte sich in seinen Wagen. Er raste zu der Straße, die Lena ihm genannt hatte. Ihm war klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, denn so wie Samu vorhin die Wohnung verlassen hatte, hätte sich wohl niemand zwischen ihn und Lena stellen können. Er wollte sie definitiv da rausholen und weil er nie bei ihr aufgetaucht hatte, machte sich Mikko, der sonst sehr kontrolliert und besonnen auf alle Situationen reagierte, wirklich ernsthafte Sorgen. Nach knappen fünf Minuten bog er in die Gasse ein und sah an einer Hauswand eine Frau kauern. „Das muss sie sein.", stoppte er den Wagen und stand aus. „Frau Virtanen?" Mikko näherte sich der so zerbrechlich und besorgt aussehenden Frau. Lena selber hockte an der Hauswand. Ihr Gesicht hatte sie an ihren Knien vergraben und seit sie das Telefonat mit Mikko beendet hatte, weinte sie. Sie weinte bitterlich. Dass sie im Schnee saß und ihr Jogginganzug schon komplett durchnässt waren, bemerkte sie gar nicht. Sie war verzweifelt. „Ein Mensch kann doch nicht einfach so verschwinden?", spukte es immer wieder durch ihren Kopf. Mikko, der neben ihr stand, bemerkte sie gar nicht. „Frau Virtanen?", während Mikko sie nochmals ansprach, hockte er sich neben sie und legte vorsichtig seine Hand auf ihre Schulter. Lena zuckte zusammen und hob ihren Kopf.

Ihre Augen waren rot und man kann sagen, dass Bäche von Tränen über ihre Wangen gekullert sein mussten. „Wer sind Sie?", schaute sie Mikko an. „Wir haben gerade telefoniert. Mikko Saukkonen." Er streckte ihr die Hand entgegen, aber Lena zeigte keine Reaktion. „Kommen Sie erstmal mit. Sie müssen sich ein wenig aufwärmen. Wir setzen uns in meinen Wagen und überlegen, wo Samu stecken könnte." Mit der besten Absicht Lena hoch zu helfen, legte er seinen Arm um sie. In diesem Moment fauchte Lena: „FASSEN SIE MICH NICHT AN. Ich will mich auch nicht in Ihren Wagen setzen. Sagen Sie mir einfach, wie wir Samu finden können. Gibt es Orte hier in der Nähe, wo er sich öfter aufhält?" Mikko wich erschrocken zurück: „Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe kommen." „Konzentrieren wir uns einfach darauf Samu zu finden!" Mikko nickte und dachte nach: „Hier gibt es eigentlich keinen Ort, wo er sich immer aufhält. Um ehrlich zu sein glaube ich, dass er sich hier sonst nie aufhält. Das ist nicht sein Viertel." Lena starrte ihn an und am liebsten hätte sie ihn gefragt, was diese Aussage jetzt zu bedeuten hatte, aber sie hatte keine Kraft mehr zu streiten und so langsam merkte sie, dass es wirklich kalt war. „Können wir uns vielleicht doch in ihr Auto setzen?", fragte sie Mikko. „Aber natürlich. Sie erfrieren mir doch sonst noch." Die beiden setzten sich ins Auto und überlegten gemeinsam, wo sie nach ihm suchen konnte. Für Lena stand fest, dass er irgendwo hier sein musste. Er konnte nicht weit gekommen sein. Nach einigen Minuten beschlossen sie, dass sie die Krankenhäuser abfahren wollten, am Telefon würde man sie vermutlich abwimmeln. Also fuhren sie durch Helsinki und hielten an jedem noch so kleinen Krankenhaus an und fragten nach Samu. Aber nirgendwo war er zu finden und mittlerweile war auch schon die Sonne untergegangen und die Dämmerung brach herein.

Dass die Dämmerung hereinbrach, bekam Samu gar nicht mit. Er war wieder eingeschlafen nachdem Leo ihn untersucht hatte und der Meinung war, dass soweit alles andere in Ordnung zu sein schien. Das linke Handgelenk hatte er provisorisch geschient, denn wenn er auch nur das Wort Krankenhaus in den Mund genommen hatte, wurde Samus Atem schneller und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Auch wenn Leo es Samu nicht sagen wollte, er machte sich Sorgen, weil er immer noch nicht gesprochen hatte. Nach langen Diskussionen mit seiner Frau entschieden sich die beiden, dass es doch das Beste wäre, wenn sie ihn in ein Krankenhaus bringen wollte. Es war untypisch, dass Samu noch nicht sprechen konnte und Leo wollte keinesfalls riskieren, dass er sich bei, was auch immer ihm zugestoßen war, eine Hirnverletzung zugezogen hatte. Also ging Maria zu Samu in das Gästezimmer und weckte ihn, indem sie über sein Haar streichte. Von außen betrachtet würde man vermuten, dass sich hier eine Mutter liebevoll um ihren Sohn kümmerte. Maria und Leo waren Engel ohne Flügel. Samus Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern und er hustete. Maria setzte sich auf die Bettkante: „Ich weiß, dass Sie unwahrscheinliche Angst davor haben ins Krankenhaus gebracht zu werden, aber wir können Ihnen hier nicht mehr weiterhelfen." Sie hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen und Samus Körper begann wieder zu zittern. In diesem Moment kam Leo ins Zimmer mit den Sanitätern. Der ebenfalls mitgekommene Notarzt schaute sich Samu an und entschied sich ihm ein Beruhigungsmittel zu spritzen, denn Samu steigerte sich gerade in etwas herein.

Seine Herzfrequenz schoss in die Höhe und das Zittern wurde immer stärker. Die Sanitäter verluden ihn in den Krankenwagen. Maria und Leo beobachteten alles mit ein wenig Abstand. Maria boxte ihrem Mann leicht in die Seite. Das war wohl unter alten Ehepaaren ein Zeichen, denn Leo nahm seine Jacke und bat die Sanitäter ihn mitzunehmen. „Ich komme nach. Ich will ihn auf keinen Fall alleine lassen.", rief Maria den Sanitätern und ihrem Mann hinterher.

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