sechsunddreißig

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Lena stieg hinter Samus Mutter in den Wagen und schnallte sich an. „Guten Morgen, Riku und guten Morgen Frau Haber." Riku schaute Lena im Rückspiegel an und lächelte sie an. Er wollte ihr ein gutes Gefühl geben, denn er merkte, dass sich Lena nicht sonderlich wohlfühlte. „Morgen.", murmelte Eve ohne den Blick von der Straße zu heben. Der Weg zum Krankenhaus kam Lena endlos lange vor, der Berufsverkehr machte verlängerte die Dauer der Fahrt um weitere Minuten. Im Auto schwiegen sich alle an. Riku motzte ab und zu über Autofahrer, die ihren Führerschein seiner Meinung nach wohl im Lotto gewonnen hatten, Eve starrte auf die Straße und Lena knibbelte nervös an ihren Nägeln. Sie knibbelte so sehr, dass es schon an einer Stelle anfing zu bluten, aber sie bemerkte das gar nicht, denn eigentlich war nur eine leere Hülle in diesem Auto anwesend. In Gedanken versunken bemerkte sie auch nicht, dass Riku bereits geparkt hatte und die beiden, also Riku und Eve, bereits ausgestiegen waren. Riku öffnete die Autotür für Lena und nachdem Lena dann endlich ausgestiegen war, umarmte er seine Schwester liebevoll und flüsterte ihr ein paar aufbauende Worte ins Ohr. „Mach Dich nicht verrückt." Eve war bereits ein Stück vorgegangen. Dieses Desinteresse an Lenas Person verunsicherte Lena sehr. Während die Riku und sie zu Eve aufschlossen, atmete Lena tief durch. „Frau Haber?" Eve würdigte Lena keines Blickes. Sie wollte jetzt keinen Kaffeeklatsch mit der Frau machen, die Samu in das Krankenhaus gebracht hatte. Auch wenn sie gestern gesagt hatte, dass es für sie okay wäre, wenn Lena mitkäme, hatte sie sich in der zurückliegenden Nacht einige Gedanken über diese Frau gemacht. Und ja, sie gab Lena die Schuld für all das und nein, sie wollte sie nicht zu Samu lassen. Kurz vor der Intensivstation blieb Eve abrupt stehen und drehte sich zu Lena um. „Vielleicht wäre es doch besser, wenn Sie hier einfach warten. Ich habe in der Nacht wach gelegen und ich habe meine Meinung geändert."

Lenas Blick wanderte von Eve zu Riku und in ihren Augen sammelten sich Tränen. „Meinen Sie das gerade Ernst?" Sie hoffte, dass sie sich das gerade eingebildet hatte, aber Eves Blick ließen keine Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. „Und auch Dich und Mikko werde ich nicht zu Samu lassen. Ja, vielleicht werde ich diese Entscheidung bereuen, aber ich glaube, dass ihr ihm nicht gut tut." Mit diesen Worten drehte sich Eve um und verschwand hinter der Glastür zur Intensivstation. „Riku, was passiert hier gerade? Ich dachte, dass Du mit ihr gesprochen hattest und sie aus freien Stücken eingewilligt hatte?" Riku ging einen Schritt auf seine Schwester zu und legte seinen Arm um sie. Doch Lena windete sich aus der Umarmung. „Ich habe Dich etwas gefragt!" „Ich weiß auch nicht, was das jetzt soll. Aber Du hast sie gehört. Sie schottet Samu jetzt scheinbar komplett von uns ab." Für Riku kam diese Ansage von Eve genauso überraschend wie für Lena. „Ach und das nimmst Du jetzt einfach so hin? Weil sie das sagt, gibst Du einfach auf? Riku, ich hätte echt mehr erwartet. Nicht meinetwegen, ich kann sie sogar ein bisschen verstehen, aber dass sie Dich und Mikko jetzt auch nicht mehr zu Samu lässt, das ist echt übel." „Ich kann ja nochmal mit ihr reden, wenn Du willst." „Wenn ich will? Was stimmt mit Dir nicht? Da drin kämpft gerade dein bester Freund um sein Leben und was machst Du?" Lenas Herz klopfte schneller und sie spürte das Blut in ihren Adern pochen. Sie war sauer, auf Eve und noch viel mehr auf Riku. „Was bist Du denn für ein bester Freund?". Lena schlug mit ihrer Faust auf Rikus Brust. „Lena, was soll ich denn machen?" „Das musst Du schon für dich selber wissen. Also ich würde das nicht einfach so hinnehmen und ich finde schon noch einen Weg mit Frau Haber über alles nochmal zu sprechen. Was Du machst ist mir egal!" Lena drehte sich mit diesen Worten um und ging Richtung Ausgang.

Riku folgte ihr. „Lena, jetzt warte doch mal." Lena drehte sich zu ihrem Bruder um. „Worauf?" „Wo willst Du denn jetzt hin?" Riku griff nach ihrem Arm und wollte sie so davon abhalten, dass sie direkt wieder loslief. Lena aber schüttelte seinen Arm ab. „Lass mich, Riku. Ich will einfach allein sein." „Aber Lena..." Riku war komplett überfordert. Erst verweigerte Eve ihm einen Besuch bei Samu und jetzt stieß Lena ihn auch noch weg. Er folgte ihr noch einige Schritte, doch er merkte, dass es nichts bringt. Lena verließ das Krankenhaus und lief zur Bushaltestelle, die direkt vor dem Krankenhaus war. Sie stieg in den Bus und fuhr zu der Bar, in der sie sich mit Samu getroffen. Ihr war klar, dass die Bar noch nicht geöffnet hatte, doch es ging ihr nicht um die Bar, sondern um die Dachterrasse. Und tatsächlich, Lena hatte Glück, denn der Besitzer schien dort zu sein. Nach einigen Diskussionen ließ er sich überreden, dass sie auf die Dachterrasse durfte und fuhr mit ihr hoch. „Lassen Sie mich einen Moment bitte alleine?" Der Barbesitzer nickte und verschwand wieder im Aufzug. Lena stellte sich an das Geländer und blickte über Helsinki. Es pfiff ein rauer Wind und sie hielt ihr Gesicht bewusst in den Wind. Sie hoffte, dass ihre Gedanken irgendwie weggeblasen wurden. Aber diese Gedanken hatten sich festgeklammert. Sie wurde sie nicht mehr los. So stand sie da, schloss ihre Augen und erinnerte sich an den Moment hier oben mit Samu zurück. Sie genoß es für einige Augenblicke zumindest in Gedanken bei ihm zu sein, sie roch sein Parfüm, sie hörte seine Stimme. Das, was sie sich von diesem Besuch hier oben erhofft hatte, war eingetreten nachdem sie eine halbe Stunde später wieder mit dem Aufzug nach unten fuhr und sich von dem Barkeeper verabschiedete. Sie fuhr nach Hause, setzte sich an den Schreibtisch und begann einen Brief zu schreiben.

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