sechsundneunzig

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Lena schaute ihn kurz mit einem leeren Blick an, ehe sie sich aufrappelte und weiter Klamotten, mehr oder weniger planlos in ihre Reisetasche pfefferte. „Kannst Du mir bitte auf die Frage antworten?" „Oh mein Gott, bist Du blöd? Was war denn bitte an „[...] und ihn gerade vermutlich das letzte Mal gesehen habe" jetzt nicht zu verstehen?", fauchte Lena Samu an. Samu schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich bin nicht blöd, aber... warum? Warum hast Du das getan?" Diese Worte klangen undankbarer, als sie gedacht waren, aber in der aktuellen Situation war keiner der beiden in der Lage wirklich über das Gesprochene nachzudenken. Darüber nachzudenken, ob es jetzt das richtige Wort war für das, was man ausdrücken wollte. „Weil ich Dich liebe, Samu. Weil Du der Mann bist, den ich an meiner Seite haben möchte. Weil Du der Mann bist, mit dem ich alt werden will. Aber scheinbar war es die falsche Entscheidung. Scheinst ja nicht besonders glücklich darüber zu sein, dass ich mich für Dich entschieden habe. Aber hey, vielleicht kann ich mich ja bei meinem Vater nochmal umentscheiden. Ganz nach dem Motto: Hallo Papa, ich dachte, dass Samu der Mann fürs Leben ist, aber nein, Du hattest Recht. Kannst Du mir verzeihen?" Lena zog wutentbrannt den Reißverschluss ihrer Reisetasche zu. „Und jetzt geh mir aus dem Weg, versuch nicht mich aufzuhalten." „Wo willst Du hin, Kleine? Geh doch jetzt bitte nicht einfach.", flehte Samu sie fast schon an. „Ich weiß grad einfach nicht, wie man auf sowas reagiert. Soll ich mich jetzt freuen, dass Du mit Deiner Familie gebrochen hast? Soll ich sagen, dass es die richtige Entscheidung war. Ich weiß es nämlich nicht. Ich weiß nicht, ob ich es wert bin, dass Du Dein eigenes Fleisch und Blut für mich fallen lässt." Lena drückte sich an Samu vorbei. „Bis vor ein paar Minuten dachte ich noch, dass es definitiv die richtige Entscheidung war, aber wenn Du jetzt so viele Zweifel hast. Keine Ahnung, vielleicht hätte ich damals mich für Mats entscheiden sollen. Er hätte auf jeden Fall besser in einem solchen Moment reagiert und nicht noch angefangen mit indirekt Vorwürfe  zu machen." Während sie das sagte, ging sie Richtung Wohnungstür.

Sie drehte sich noch einmal kurz um, denn sie erwartete natürlich eine Reaktion von dem Mann, der gerade alles in Frage stellte. Wenn Samu jetzt emotional gefestigt wäre, dann würde er versuchen eine Lösung für das Problem zu finden, mit der er und Lena für den Moment gut leben könnten. Denn bei einem Streit sollte es nicht darum gehen zu gewinnen. Es sollte kein Tauziehen entstehen und der Klügere sollte auch nicht nachgeben. Beide sollten jetzt am besten gleichzeitigt nachgeben, denn nur wenn beide jetzt aufeinander zugehen würden, würde sich die Spannung zumindest für einen Moment lösen. Aber um einen Schritt auf den anderen zugehen zu gehen, müsste Samu wissen, was er wollte. Und er wusste es immer noch nicht. Das Gespräch mit Riku im Studio hatte ihm unterm Strich genauso wenig geholfen, wie die Begegnung mit Lenas Vater. Und weil er nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte, platzte es einfach aus ihm raus. „Immer wenn wir uns auch nur ansatzweise streiten, wenn wir einen Meinungsverschiedenheit haben, wirfst Du mir das als Vorwurf an den Kopf. Immer bin ich in Deinen Augen an allem Schuld, immer reagiere ich nicht angemessen, immer mache ich den Fehler." Diese pauschalen Vorwürfe waren genau das, was Lena jetzt gebrauchen konnte. Sie starrte ihn entsetzt an. „Weißt Du was...", schrie sie Samu an. „Dann bist Du ohne mich vielleicht besser dran, wenn ich so ein schlechter Mensch bin." Lena knallte die Wohnungstür hinter sich zu. Dieser Streit hatte sich schnell vom eisigen Schweigen über eine normale Unterhaltung bis hin zum Schreien und Türenknallen entwickelt. Samu stand immer noch an der gleichen Stelle im Flur und konnte gerade nicht wirklich fassen was passiert war. Lena verließ das Haus, verließ die Straße und stieg einfach nur in eine Tram ein. Nachdem sie die Türe hinter sich zugeknallt hatte, waren sofort die Tränen über ihre Wangen geflossen.

Auf der einen Seite bereute sie es zutiefst, dass sie Samu das gerade alles an den Kopf geknallt hatte, denn sie wusste, dass es alles nicht besser gemacht hatte. Aber auf der anderen Seite musste es auch einfach mal raus, sie konnte schließlich nicht immer darauf Rücksicht nehmen und alles herunterschlucken. Und natürlich hatte sie mit einer anderen Reaktion gerechnet. Natürlich hatte sie sich erhofft, dass es sich zumindest ein bisschen freuen würde, ein bisschen wertgeschätzt hätte, was sie gerade für ihn für eine Entscheidung getroffen hatte. Sie schaute aus dem Fenster, sah die Häuser vorbeiziehen. Sie wusste gar nicht, wo sie gerade hinfuhr. Sie wusste nicht einmal, in welche Tram sie eingestiegen war. Ihr fiel in diesem Moment nichts besseres ein, als ihr Handy zu zücken und eine Nummer zu wählen. Mit Tränen erstickter Stimme fragte sie lediglich: „Kann ich bitte heute bei Dir schlafen? Ich habe glaube ich doppelten Mist gebaut." Nach einer kurzen Antwort der Gegenseite, folgte ein „Danke!" von Lena. Danach steckte sie das Telefon wieder weg und starrte aus dem Fenster. Ihr Kopf platzte fast, da sich die wildesten Gedanken den Weg durch ihr Gehirn bahnten. „Habe ich gerade vielleicht die beiden Männer verloren, die bis vor ein paar Augenblicken noch den größten Stellenwert in meinem Leben hatten? Habe ich es wirklich versaut?" Es fühlte sich gerade für sie an, als hätte man ihr das Herz herausgerissen, als hätte sie sich selber das Herz rausgerissen. Mehr als einen unendlichen Schmerz spürte sie gerade nicht. „Was das jetzt gerade wirklich das Ende einer verdammt schönen Zeit gewesen?"

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