zweiundvierzig

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Plötzlich stürmten mehrere Ärzte in das Zimmer und begannen sich im allerfeinsten Fachchinesisch über Samus Zustand auszutauschen. Sie leuchteten ihm in die Augen, testeten seine Reflexe, aber in ihren Augen sahen Riku und Eve pure Ahnungslosigkeit. Riku musste vom Bett wegtreten und hatte sich zu Eve gestellt, die ihren Kopf an seiner Schulter vergraben hatte. Sie versuchte wirklich stark zu sein, aber ihren Sohn so zu sehen, machte sie fast noch fertiger als die Tatsache, dass er die letzten Tage geschlafen hatte. Dieser hilflose Blick, die Tränen, die aus seinen Augen geflossen waren. All das hatte ihr jetzt den letzten Stich ins Herz versetzt. Riku war ebenfalls völlig überfordert, so hatte auch er seinen besten Freund noch nie gesehen. Das Gewusel der Ärzte und die ganzen Fachwörter taten ihr Übriges. Die beiden standen einfach nur ein wenig abseits von Samus Bett und Riku versuchte Eve zu beruhigen. Ihr Schluchzen wurde auch mit der Zeit ein bisschen leiser, auch wenn sie sich dafür sehr zusammenreißen musste. Eine der Ärzte drehte sich zu Eve um. „Frau Haber? Ich müsste einmal mit Ihnen über den Zustand ihres Sohnes sprechen. Würden Sie vielleicht kurz mit mir mitkommen, damit wir uns in Ruhe unterhalten können?" Die Tatsache, dass die Ärztin mit ihr alleine sprechen wollte, ließ Eve nichts Positives vermuten. Sie schaute Riku an und er verstand den Blick. „Geh ruhig mit. Ich bleibe hier bei Samu. Ich lasse ihn nicht aus den Augen." Eve nickte und ging zusammen mit der Ärztin in ein kleines Büro. „Setzen Sie sich bitte, Frau Haber. Mein Name ist Anna Virtanen und ich bin hier die leitende Neurochirurgin." Eve schaute die Ärztin lediglich an und deutete etwas wie ein Nicken an. „Wir können uns den Zustand Ihres Sohnes nicht erklären. Alle Untersuchungen zeigen keine Auffälligkeiten. Die Blutung innerhalb des Gehirns wurde perfekt versorgt und alle Organe arbeiten einwandfrei." „Und das heißt jetzt genau was? Was ist mit meinem Sohn?"

„Wie gesagt, ich kann Ihnen nicht erklären, weshalb Ihr Sohn nicht spricht. Ich glaube nicht, dass es etwas Organisches ist, was ihn daran hindert." Eve schnaubte ihre Nase und wischte ihre Tränen ab. „Das heißt, sie wollen mir sagen, dass wir nichts tun können?" Dr. Virtanen bemühte sich wirklich Eve Hoffnung zu geben, aber mehr als Vermutungen konnte sie nicht aufstellen. „Ich würde für den Moment vorschlagen, dass wir ihn beobachten und er braucht vertraute Menschen um sich. Sind Sie und Herr Rajamaa die einzigen Personen, zu denen er eine intensive Beziehung hat? Hat er eine Freundin?" „Nein, eine Freundin hat er nicht." „Okay, Frau Haber. Wir wissen nicht, was Menschen, die im Koma liegen, erleben. Sprechen Sie behutsam mit ihm und seien Sie und Herr Rajamaa einfach für ihn da. Wenn etwas ist, können Sie sich jederzeit bei mir melden. Auch wenn Sie psychologische Betreuung wünschen, können Sie sich an mich oder meine Kollegen wenden." „Danke!" Eve verabschiedete sich von der Ärztin und ging zurück zu Samu. Die Ärzte waren verschwunden und Riku saß bei seinem besten Freund, der mittlerweile seine Augen geschlossen und seinen Kopf von ihm abgewendet hatte. Er tat so, als würde er schlafen, denn auch wenn er wusste, dass Riku und seine Mutter nur das Beste für ihn wollten, fühlte er sich viel schlechter, wenn er in ihre traurigen und verzweifelten Augen schauen musste. Samu bemerkte natürlich, dass seine Mutter zurückgekommen war und er hörte sie auch mit Riku tuscheln, aber er konnte sich noch nicht darauf konzentrieren, seine Gedanken hingen noch im künstlichen Koma. Es war eine schreckliche Zeit gewesen, er hatte immer wieder geträumt, dass er ertränkt, erschossen oder verbrannt wurde. Wie oft er dem Tod in seinen schlimmsten Facetten entgegen geblickt hatte. Es war eine Ur-Angst, die ihn gefesselt hatte. Samu hatte alles mitbekommen, als er geschlafen hatte.

Am meisten hatte er sich über Lenas Schal gefreut, der immer noch unter seinem Arm lag. Die Ärzte wollten ihm den Schal eben schon wegnehmen, doch er hielt ihn fest. „Wie es ihr wohl ging? Wo ist Lena überhaupt? Was hatte seine Mutter über Berlin erzählt?" Eine Träne bahnte sich den Weg aus seinen geschlossenen Augen und tropfte auf das Kissen. Samu schwankte immer wieder zwischen Traum und Wirklichkeit. „Hatte er geträumt, dass Lena nicht in Helsinki war? Welcher Tag war heute überhaupt?" Eve und Riku waren immer noch bei ihm. Er wünschte sich gerade eigentlich nichts mehr als alleine zu sein, um selber mit der Situation klarzukommen. Eve griff nach der Hand ihres Sohnes. „Schatz?", fragte sie leise. Samu hörte das sehr wohl, aber ließ die Augen geschlossen. Riku fragte Eve vorsichtig, ob man Samu nicht einfach allein lassen sollte. Eve weigerte sich vehement, aber nach einigen weiteren Minuten verabschiedeten sich beide von Samu. „Wir kommen morgen früh wieder. Ruh Dich aus, Schatz!" Eve drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und verließ dann mit Riku das Zimmer. Als sich die Tür geschlossen hatte, öffnete Samu sofort die Augen. Er starrte an die Decke. „Was ist bloß los mit mir?" Immer wieder versuchte er irgendetwas zu sagen, aber er wurde durch irgendwas blockiert. Eine Schwester kam zu ihm, es war die Schwester, die noch den Brief von Lena für ihn hatte. „Herr Haber?" Samu schaute zu ihr. „Ich habe hier noch etwas für Sie. Es wurde ein Brief für Sie abgegeben, den sie bekommen sollten, sobald sie wach sind. Ich lege Ihnen den Brief hier aufs Bett. Soll ich Ihnen helfen sich etwas aufzusetzen? Wir können das Kopfteil etwas hochstellen." Die Schwester richtete Samu ein wenig auf. „Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie einfach. Ich schaue später noch einmal nach Ihnen." Samu nickte erneut nur und versuchte ein wenig zu lächeln. Er starrte auf den Briefumschlag, es stand nicht mehr als sein Name darauf. „Wer hat mir wohl einen Brief geschrieben?"

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