Kapitel 24

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Glücklich stand ich auf dem Flughafen und wartete auf das Boarding. Wie immer wurde natürlich als erstes das Priority Boarding aufgerufen, ehe wir in der Holzklasse dran waren. Dezent schummelte ich mich also schon einmal in die Schlange und schaute auf meine Boardkarte. Ich saß ziemlich weit vorne. Den Luxus der extra Beinfreiheit hatte ich mir gegönnt. Selbst für so kurze Zeit wie den Flug nach Berlin, hasste ich es meine langen Beine zusammenzufalten. Meine Vorfreude auf meine Heimatstadt stieg immer mehr. Die Schlange vor mir wurde immer kürzer. Ich hielt also gerade meine Bordkarte der Servicedame hin als sich jemand an mir vorbeidrängte und sein IPhone ihr in die Hand drückte.
"Ähm hallo, die Schlange fängt hinten an und nicht vorne.", meckerte ich los.
Der Typ drehte sich nicht einmal um, sondern zischte nur ein "Priority Boarding" über seine Schulter und verschwand durch die Abfertigung. Die Abfertigungstante zuckte nur mit den Schultern und lächelte mich entschuldigend an, als sie meine Bordkarte über den Scanner zog. Irgendwie liebte ich die Bordkarten aus Papier. Mein Vertrauen in die mobilen war nicht so richtig vorhanden. Ich kannte ja mein Glück, garantiert würde mein Handy genau in dem Moment spinnen und ich würde dumm da stehen. Jetzt stiefelte ich aber den Gang zum Flugzeug entlang. Natürlich staute es sich am Einstieg sowieso wieder. Ich musste grinsen, als ich diesen Drängelarsch vor mir stehen sah mit seinem Köfferchen. Manchmal fragte ich mich wirklich was die Leute da alles mitschleppten. Diese Köfferchen hatten ja schon Ausmaße, dass man von  Koffer sprechen konnte. Tja, aber hier half ihm sein Priority auch nichts mehr. Eigentlich lag mir ein dummer Spruch auf den Lippen. Aber nö, ich wollte jetzt nur noch den Flug genießen und mich nicht aufregen.
Dieser Vorsatz wurde kurze Zeit später genau von diesem Drängelarsch wieder auf die Probe gestellt. Nicht  nur, dass er scheinbar ein wenig schwach auf den Rippen war und seinen Koffer gemächlich ins Flugzeug schob. Ich hasste es, wenn man mit diesen Dingern vor meinen Füssen rumschob und man ständig fast darüber stolperte. Ein richtiger Kerl hätte wohl sein Köfferchen tragen können. Ich ließ meine Blick über die Sitznummern schweifen. Nur noch zwei Reihen, dann konnte ich mich gemütlich in meinen Sitz plumpsen lassen. Der Typ vor mir stoppte abrupt und hievte jetzt doch einmal seinen Koffer in die Gepäckablage. Na prima, der saß in der Reihe vor mir. Ich hatte schon befürchtet, bei meinem Glück saß der auch noch neben mir. Erleichtert atmete ich auf und nahm schon einmal meinen Rucksack vom Rücken. Der würde genau noch in die Ablage passen. Ehe ich mich versah, zog er noch einen Rücksack vom Rücken und legte ihn in die Ablage, wo ich bereits meinen gesehen hatte. Diesen wunderbaren Rucksack von Louis Vuitton sogar mit Initialen verziert, hatte ich ja vollkommen übersehen. Dieses MP stand wahrscheinlich als Abkürzung für MEINE PERSÖNLICHE PLAGE. Obwohl  nee, dann müsste ja MPP da stehen. Also vielleicht doch eher PROLLIGER MACHO. Nee, passte auch nicht, wäre ja verkehrt herum. Also doch eher MISTER PROTZ. Endlich hatte er sich auf seinen Platz getrollt. Ich ließ meine Blicke schweifen. Alle Gepäckablagen in der Umgebung waren voll. Die Stewardess lächelte mich entschuldigend an "Wir sind heute leider ausgebucht, da reicht der Platz nicht. Sie müssten ihren Rucksack leider unter dem Vordersitz verstauen." Grummelnd setzte ich mich also auf meinen Fensterplatz und schob meinen Rucksack  wie befohlen unter den Vordersitz. Klasse, dafür hatte ich nun den teureren Platz mit mehr Beinfreiheit gebucht. Echt perfekt. Aber ich war ja elendlich optimistisch veranlagt und sagte mir ohne den teuen Platz hätte ich meine Knie jetzt unter dem Kinn. Also schaute ich entspannt aus dem Fenster auf die Startbahn. Jetzt ging es nach Berlin und ich würde eine hammerhart geile Woche haben. Sofort schnellte meine Laune wieder in die Höhe, so wie das Flugzeug auch. Ich liebte immer diesen Blick aus dem Flugzeug, wenn man alles unter sich im Spielzeugformat sah und wenn die Wolken wie kleine Wattebäusche an einem vorbeizogen. Völlig entspannt lehnte ich mich zurück als ich plötzlich durch einen Schmerz in meinem Knie aus meinen Gedanken gerissen wurde. Ich zischte kurz auf und schaute nach dem Grund. Das konnte doch nicht wahr sein. Mein Vordermann hatte seinen Sitz ganz zurückgeklappt und residierte jetzt mit seinem Kopf fast auf meinem Schoß. Ein Blick auf diesen Kopf bestätigte mir das, was ich bereits geahnt hatte. Das konnte doch nur MISTER PROTZ alias MEINE PLAGE sein. Gerade als ich ihn antippen wollte, um ihn mehr oder weniger freundlich , also wahrscheinlich eher weniger, zu bitten seinen Sitz wieder etwas hochzustellen, hörte ich ein lautes Schnarchen. Supi, den Atem konnte ich mir wohl sparen. Bei der Geräuschkulisse hätte ich ihn wahrscheinlich erst nach der Landung wach. Außerdem wollte ich den Spaß ihn vor der Landung zu wecken der netten Stewardesse ja nicht nehmen. Das könnte interessant werden. Grinsend lehnte ich mich also in meinem Sitz zurück und überlegte mir schon einmal einen Spruch, den ich nachher noch MISTER PROTZ reindrücken konnte.

Als wir gelandet waren, war mein ganzer Frust aber vergessen. Meine Knie hatten ja alles überlebt und MISTER PROTZ lief mit seinem Köfferchen vor mir die Gangway hinunter.  Klasse, wir waren mal wieder auf einer Außenposition gelandet. Das hieß auch noch Bus fahren. Ich fragte mich wirklich, wann die endlich diesen dämlichen Flughafen hier in Berlin fertig bekamen. Tegel war völlig überlastet und die suchten immer noch irgendwelche Fehler an irgendwelchen Stromkabeln. Die sollten den BER einfach abreißen und neu bauen. Total begeistert drängelte ich mich also hinter MEINER PLAGE in den Bus. Ich klammerte mich an die Haltestange als der Busfahrer auch schon das erste Mal in die Bremsen trat als hätte er Holzklötzer und nicht Füsse, die in der Lage wären gefühlvoll zu bremsen. Plötzlich spürte ich einen Klammergriff an meiner Hüfte. Was war das? Ich drehte meinen Kopf und schaute in blaue Augen, die mich anstarrten. Das zu den Augen gehörende Gesicht färbte sich schlagartig rot und bildete einen krassen Kontrast zu den blonden Haaren. "So...sorry.", stotterte MISTER PATSCHEPFOTE leise und löste seine Hände von mir. Ach, so demütig und peinlich berührt, war er ja ganz niedlich. Egal, den würde ich sowieso niemals wiedersehen.  Fröhlich beschwingt stieg ich aus dem Bus und stiefelte zum Gepäckband. Auch hier konnte man sich erst einmal die Beine in den Bauch stehen. Nirgends dauerte die Gepäckausgabe so lange wie in Berlin. Ich liebte meine Heimatstadt wirklich, und Berlin konnte wirklich alles, nur nicht Flughafen. Ich hatte mich gleich vorne am Gepäckband positioniert, schließlich wollte ich schnell meinen Koffer, denn mein Bruder hatte mir schon geschrieben, dass er draußen auf mich wartete. Als sich endlich das Band unter lautem Getöse in Bewegung setzte und die ersten Koffer ausspuckte, sah ich schon meinen Koffer auf mich zu kommen. Gerade als ich nach ihm greifen wollte, wurde ich beiseite gedrängt und ein anderer Koffer fand seinen Weg vom Band, während meiner gemütlich weiterzuckelte. Ein Seitenblick bestätigte mir das, was ich fast schon erahnt hatte. Natürlich war es wieder MEINE PROVOKATION. Ich hatte jetzt die Wahl meinem Koffer hinterher zu sprinten oder ihm noch eine weitere Runde zu gönnen. Ich entschied mich für den Sprint und schaffte es wirklich ihn im letzten Moment noch vom Band zu ziehen ehe er seine zweite Runde startete. Glücklich lief ich mit meinem Koffer durch den Ausgang und ließ meinen Blick suchend durch die wartende Menge gleiten. Als ich meinen Bruder entdeckt hatte, rannte ich freudig auf ihn zu. "Da ist ja mein Schnattchen..", lachend zog mich Alex in seine Arme und verteilte feuchte Knutscher auf meinem Gesicht. Wie ich diesen Kosenamen und dieses nasse Abgeschlecke hasste. Aber ich genoß es, wenn mein großer starker Bruder mich in seine Arme zog.
"Na, dann lasse uns nach Hause." Alex nahm mir meinen Koffer ab und legte seinen Arm um meine Schulter. Ach war das schön, endlich mal wieder in Berlin zu sein. Ich atmete einmal tief durch. Ja, das war meine Berliner Luft.

Ein Schuss, ein Volltreffer    ✔Teil 4Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt