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ERIN

Als ich mich nach einer Weile endlich wieder beruhigt habe, erhebt Ewan sich und reicht mir eine Serviette. Schniefend wische ich mir die Tränen damit ab und zerknülle sie in meinen Händen. Es hat gutgetan, darüber zu sprechen. All die Jahre habe ich es für mich behalten und hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Bei Ewan scheint das anders zu sein, obwohl er die meiste Zeit ein Arsch ist. Ich weiß, das er tief in seinem Herzen ein Fünkchen gut ist, sonst lege ich schon längst unter der Erde, in einem dreckigen Loch. Außerdem glaube ich, das er manchmal die Dinge die er sagt, nicht so meint. Wenn er mich beleidigt und ich ihn, dann ist das irgendwie unsere verkorkste Art, nett zueinander zu sein.
Ich beobachte ihn, wie er die zwei Pizzen aus dem Ofen zieht, sie auf zwei Teller schaufelt und mit einem Pizzaroller über den dampfenden Belag schneidet. Keine fünf Minuten später kommt er auf mich zu und stellt mir meinen Teller vor die Nase. »Danke«, murmle ich und schniefe ein letztes Mal, bevor ich tief durchatme und den dicken Kloß in meinem Hals herunterschlucke. Der schwache Moment hat gutgetan. Verdammt gut.
Ich sauge den köstlichen Geruch der Pizza auf, die sich mir dampfend präsentiert. Der viele Käse läuft an den Ecken hinunter und lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Guten Appetit«, wünscht er mir. Ich erwidere seine Worte mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen und nehme mir den ersten Bissen. Es schmeckt himmlisch. Es ist schon viele Wochen her, dass ich das letzte mal eine Pizza gegessen habe. Allein deswegen zergeht sie mir auf der Zunge wie Butter und lässt mein Herz vor Freude aufhüpfen.

Ewan und ich genießen unser Abendessen in Ruhe. Ich schaffe fast die ganze Pizza, lasse vorsorglich zwei Stück übrig. Schließlich will ich sie nicht gleich wieder auskotzen. »Möchtest du die beiden noch?«, biete ich sie ihm an. Er schüttelt ebenfalls den Kopf und lehnt sich satt zurück. »Ich stelle sie in den Kühlschrank«, antwortet er mir und erhebt sich. Während er abräumt, lege ich meine rechte Hand auf meinen Oberschenkel und massiere mein Bein auf dem Verband vorsichtig. Es schmerzt nicht mehr doll, vermutlich wegen der Tabletten, aber die Wunde drückt unangenehm gegen die weiße Mullbinde. »Hast du schmerzen?«, erkundigt der dunkelblonde sich. Er streift sich mit einer Hand über seinen kurzen Bart und hält neben mir inne. »Ein wenig«, gebe ich zu.
»Wenn du willst steche ich dir einen neuen Zugang für heute Nacht. Es wird angenehmer mit Infusion.«
Das würde er machen? »Ja, danke«, flüstere ich. Ewans ruhige Art schwappt auf mich über. Sonst ist er immer so dominant und forsch - heute sanfter. Ob es an den Dingen liegt, die ich ihm erzählt habe?
»Ewan?«, spreche ich seinen Namen nachdenklich aus. Er sinkt in seinen Stuhl und schaut mich dabei an.
»Mhm? Was hast du?«
»Ich möchte nicht, dass du mich anders behandelst, nachdem ich mich dir anvertraut habe, okay? Ich versuche das alles zu vergessen und einfach weiterzumachen. Vielleicht verstehst du das nicht, aber für mich ist es besser so...«, bitte ich ihn. Er lässt seinen Kopf nachdenklich hängen. »Doch, das... das verstehe ich gut«, erwidert er, »Also keine Extrabehandlung, Kätzchen?«
Der Spitzname den er mir gegeben hat, bringt mich diesmal zum Lächeln. Seine Augen funkeln mir entgegen, sie wirken wie immer. »Danke«, forme ich mit meinen Lippen. Mit einer Hand hebe ich die Dose Cola an, die vor mir steht und nehme einen Schluck. Ich bin froh, dass er auf meinen Wunsch eingeht. Ich will das Thema nur hinter mir lassen und nicht darüber nachdenken. Vielleicht ist verdrängen im Moment das einzig richtige für mich.

»Wann werde ich eigentlich in alles eingeweiht?«, frage ich ganz am Rande nach. Ewan spielt mit seinem silbernen Feuerzeug auf dem Tisch. »Wenn es dir besser geht. Wir müssen einige Dinge erledigen, sobald du wieder laufen kannst«, erklärt er mir. Frustriert lasse ich meine Schultern sinken. Das zieht sich alles viel länger, als ich gedacht habe. »Und dann? Darf ich gehen?«
Er schweigt für einige Augenblicke, bevor er einmal seinen Kopf schüttelt und mir damit signalisiert, das ich das nicht darf. Irgendwie, habe ich immer noch gehofft, seine Antwort wäre eine andere. »Du weißt das ich dich nicht mehr gehen lassen kann...«, gibt er mir zu verstehen. Unsere Augen treffen sich. Ich kann die Weise, wie er mich ansieht nicht deuten. Seine Augen sind so dunkel und warm, nicht so kühl wie sonst. »Wirst du mir irgendwann so vertrauen, das ich dieses Grundstück allein verlassen darf?«
»Das wird sich zeigen«, antwortet er mir und erhebt sich von seinem Stuhl. Er ist der erste, der unseren Augenkontakt unterbricht, als er die Terrasse verlässt. Meine Augen folgen ihm ganz automatisch. Er nimmt sich etwas Neues zu trinken aus dem Kühlschrank, bevor er sich wieder zu mir gesellt und ich meinen Kopf in Richtung Garten wende. Die letzten Sonnenstrahlen kitzeln meine Nasenspitze und ich bin froh, dass es noch so warm ist.

Der Abend schreitet voran und wir sitzen noch auf der Terrasse am Tisch. Wir unterhalten uns über die Prüfung, wechseln dann wieder zu dem Castle. Es interessiert mich sehr, was hinter diesen alten Mauern verborgen liegt. Er erzählt mir, dass es hier früher sogar einen Folterkeller gab, der in den frühen dreißiger Jahren mit Erde zugeschüttet wurde. Eine gruselige Vorstellung, was dort geschehen ist. Dennoch ist die Geschichte dieses Castles faszinierend. Es beeindruckt mich, dass es nach all den Jahren noch so gut in Schuss ist.
Ewans Augen huschen hinab zu meinem Bein, das ich mir schmerzhaft reibe. »Vielleicht ist es Zeit, dich nach oben zu bringen«, beschließt er und erhebt sich. Ja, vermutlich ist es das. Er hebt mich vorsichtig an und trägt mich wieder nach drinnen. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals um etwas halt zu finden, dabei streifen meine Finger seine Tattoos, die aus dem Kragen seines Pullovers schauen und mich in ihren Bann ziehen. Eines erkenne ich sogar. Es ist der Lauf der Beretta, die er besitzt. Sie ragt quer an seinem Hals hinauf in Richtung Gesicht. »Tat das weh?«, frage ich ihn leise und fahre mit meinem Zeigefinger über die schwarze Tinte. Seine Haut ist weich und dünn an der Stelle seitlich an seinem Hals. Ich könnte schwören, seinen Puls unter meinen Fingern zu spüren. »Nein«, erwidert er laufend. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir die Wahrheit sagt. Es fühlt sich bestimmt schmerzhaft an. Wenn ich mir vorstelle, das eine Nadel sich in meinen Hals drücken würde, würde ich vermutlich anfangen zu weinen. Ja, ganz sicher.
»Hast du sie mal gezählt?«
Ich lehne meinen Kopf gegen seine Schulter während er mich die Treppe nach oben trägt. Seine Arme haben sich fest um mich geschlungen, einer unter meinen Knien, der andere an meinem Rücken. Abwartend schaue ich zu ihm auf. Seine festen Züge sind weicher geworden, im Vergleich zu vorhin oder gestern. Liegt es an den Dingen die ich ihm erzählt habe?
»Nein, weißt du bei wie vielen ich betrunken war? Ich bin sicher das da irgendwo eins ist, von dem ich nichtmal etwas weiß«, schnaubt er amüsiert. Grinsend sehe ich ihn an. »Solange es kein Arschgeweih ist«, scherze ich. Seine Mundwinkel zucken verdächtig. Er späht kurz zu mir hinunter und schüttelt den Kopf. »Von dem wüsste ich sicher«, beteuert er. »Sicher«, amüsiere ich mich. Er setzt mich behutsam auf meinem weichen Bett ab, legt mir die dicke Bettdecke über die Beine und schnappt sich die alte Infusion. Mit ein paar Handgriffen hat er sie von dem Zugang getrennt, der in der Luft hängt, und ihn im Mülleimer versenkt. Erst jetzt, als er danach greift, entdecke ich den eingepackten Zugang auf meinem Nachttisch. Still kniet er sich vor mein Bett und verlangt meine Hand, die ich in seine lege. Kleine Blitze schießen zwischen unseren Fingern umher, während er meinen Handrücken desinfiziert und abtupft. »Zieh ihn dir nicht wieder, okay? Ruf mich, wenn es wehtut aber tue es nicht selbst. Du verschaffst dir nur unnötige Schmerzen«, bittet er mich ernst. Ich merke fast nicht, wie er die Nadel in meine Haut schiebt und die Kanüle in meiner Vene steckt. Er befestigt das Pflaster, damit er nicht verrutscht und zerknüllt den Verpackungsmüll in seinen Händen. Er bringt mir eine neue Infusion, schließt sie an und wartet, bis die ersten Tröpfchen den Schlauch hinab rinnen. Ich bette meinen Kopf in den weichen Kissen, ziehe meine Decke bis über die Schultern und warte, bis ich das Schmerzmittel in meinem Blut spüre. Es dauert nicht lang, bis sich der weiße Schleier wieder in meinem Kopf breitmacht und meine Augen von allein zufallen. Meine Schmerzen verschwinden endlich. »Danke«, wispere ich mit geschlossenen Augen. Ich höre wie seine Schritte sich langsam entfernen und das Licht gelöscht wird. »Schlaf gut«, sind seine letzten Worte, bevor er die Tür leise schließt. Abgeschlossen hat er nicht.

Highland King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt