55. Vermisst

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Mit Salvatore zu telefonieren, war immer das Höchste an Herausforderung für mich. Er versuchte immer wieder mich zu beeinflussen. Und ich fand es schwierig ihm zu widerstehen. Aber der Abstand war besser für mich.

Ich wandte mich wieder den Augen zu und schaute sie minutenlang an. Irgendwie entspannten sie mich. Sie waren so warm anzusehen. Sie strahlten regelrecht. Sanft berührte ich den Behälter und sagte: „Es tut mir leid, dass du alles mit anhören musstest. Ich werde alles in Gang setzen, um dich daraus zu holen." Dann holte ich den Löffel und durchrührte die Mischung an Flüssigkeiten. „Ich hoffe es hilft."

Andere fütterten täglich ihre Katze und sprachen mit ihr. Ich hatte zwei Augen und sprach mit ihnen. Mein Leben hatte sich wirklich verändert.

Und das hatte es.

Ich lebte mich in Boston ein. Die Stadt war schön. Sie war grün und ruhig. Es gab wenig Kriminalität, alles war sauber und geordnet. Ich ging gerne spazieren und schaute mir die Sehenswürdigkeiten an. Da meine Wohnung absolut zentral lag, konnte ich das meiste erlaufen. Ich war oft am Morgen und am späten Abend unterwegs, wenn die Straßen leerer wurden. Das war gut, damit konnte ich den Menschen aus dem Weg gehen. Das gefiel mir.

New York dagegen schlief nie. In dieser riesigen Stadt war immer extrem viel los. Immer waren Menschen unterwegs. Das hatte mich schon immer genervt.

Hier in Boston waren die Straßen Menschenleer am Abend, denn man war ordentlich bei den Kindern und seinen Liebsten daheim.

Ich war nicht der einzige Vampir in dieser Stadt. Manchmal begegneten wir uns. Dann nickten wir einander zu. Aber im Regelfall sprachen wir nicht miteinander. Jeder wollte seine Ruhe haben und jeder hatte seine eigenen Motive hier zu leben.

Bis ich eines Abends einen Anruf von Salvatore erhielt. Er fragte erneut alle wichtigen Sachen ab. Mein übliches ‚Ja, alles in Ordnung', musste ihn nerven und ich fragte mich, was er Wichtiges von mir wollte, als er endlich zu berichten begann: „Wir haben die Nachricht erhalten, dass zwei Vampire in Boston vermisst werden. Kannst du irgendetwas über dein Forum ausfindig machen? Wir vermuten, dass sie vom Opus Dei in Boston geschnappt worden sind. Ich konnte den Schmerz spüren. Einer von beiden war bei uns vor seinem Umzug Clanmitglied in New York gewesen und meine Verbindung zu ihm besteht immer noch. Wir vermuten, dass er aktuell irgendwo in Boston oder Umgebung festgehalten wird."

Er sprach aus, was ich schon seit ein paar Tagen gespürt hatte. Es gab in der Nähe Vampire die Schmerzen litten. Es mussten starke Schmerzen sein. Mein Herz hatte sich zusammengekrampft und schlug mehrmals unregelmäßig. Mir war kurzzeitig schlecht geworden. Aber ich war dem nicht weiter gefolgt. Ich wollte mich nirgendwo einmischen. Dies war nicht meine Stadt. Ich war froh in Boston meine Ruhe zu haben. Aber es kam alles anders, so antworte ich: „Ich habe das auch bemerkt. Es strahlt seit drei Tagen unregelmäßig auf alle hier in Boston aus. Ich kümmere mich darum und werde ins Forum eine Anfrage stellen, ob jemand nähere Informationen hat."

Allein in Boston meldeten sich über zwanzig Vampire bei mir. Jeder von Ihnen hatte etwas gespürt. Tagelang saß ich am Rechner. Ich trug alle Informationen zusammen, schickte sie an Vincenzo und stellte dies den Mitgliedern meiner neu gegründeten geschlossenen UserGroup Boston zur Verfügung. Alle lasen interessiert mit und beteiligten sich an der Informationsgewinnung.

Die Opus Dei Gruppe hatten in den letzten zwei Jahren eine Zentrale in dieser Stadt aufgebaut. Direkt in dieser Kirche neben der Zentralbibliothek, dessen Räume sie mitbenutzen durften, da sie Finanzmittel und Restauratoren für die alten Bücher zu Verfügung stellten. Dabei hieß es immer, Staat und Kirche sollten getrennt bleiben. Aber die Kirche hatte starken Einfluss in dieser Stadt, schon in der Anfangszeit Amerikas war Boston religiös geprägt. Schon damals gab es hier Quäkerversammlungen, welche die Richtung vorgaben, in der die Stadt und die Region sich entwickeln sollten. Ich fand daraus, dass sie sich einmal in der Woche in der Bibliothek trafen.

Die beiden verschwundenen Vampire waren gleichfalls, wie alle hier in der Stadt, Einzelgänger. Einer war zeitweilig als Lehrer tätig und er wurde bereits vor zwei Wochen als vermisst gemeldet. Der andere Vampir hatte eine menschliche Freundin hinterlassen.

Ich ließ mir über das Forum ihre Anschriftendaten geben und suchte sie an einem Abend auf.

An einem wunderschönen gepflegten doppelstöckigen Windsor Reihenhaus mit roten Klinkersteinen und sauberen weißen Fensterrahmen klingelte ich und eine etwas ältere menschliche Frau mit gepflegten Äußeren und dauergewellten ordentlich gelegten Haar in den Fünfzigern im adretten Sommerkleid öffnete mir die Tür: „Entschuldigung, mein Besuch mag etwas eigenartig sein, aber ich bin hier, um Ihren Lebenspartner zu finden und ich bin ein Vampir.", überfiel ich sie gleich mit den wichtigsten Informationen.

Traurig presste sie die Lippen zusammen und brach noch an der Tür in Tränen aus: „Bitte kommen Sie doch herein. Ich bitte um Entschuldigung, aber sie sind der Erste, der sich bei mir meldet. Ich konnte ja schlecht zur Polizei gehen. Die hätten mich wahrscheinlich in die Irrenanstalt gesteckt, wenn ich erzählt hätte, was vorgefallen war und dass er ein Vampir ist."

Sie brachte mich in ihr adrettes viktorianisches Wohnzimmer und bot mir etwas zu trinken an. Ich schüttelte den Kopf: „Danke für das Angebot, aber ich kann nicht lange bleiben. Können Sie mir sagen was vorgefallen ist?"

Sie schnäuzte in ihr gebügeltes weißes Taschentuch und setzte sich mir gegenüber auf das Sofa. „Ich weiß nicht viel. Vor drei Tagen ist er verschwunden. Es war am Abend. Es war schon dunkel, so gegen zwanzig Uhr. Er war wie jeden Abend mit dem Hund spazieren. Auf einmal stand Fritzchen laut jaulend allein vor der Tür. Er hatte noch die Leine am Halsband. Seitdem habe ich meinen Mann nicht mehr gesehen. Ich hoffte, er würde einfach wieder auftauchen. Manchmal verschwand er für zwei bis drei Tage. Aber nicht so! Er hatte immer einen Zettel hinterlassen, wenn er bestimmte Aufgaben zu erledigen hatte, oder sich einfach mit jemanden traf. Ich wusste immer, wann er weg war. Zwar nicht immer, wo er war, oder mit wem er unterwegs war. Aber immer, dass er unterwegs war." Sie schnäuzte nochmal in ihr Taschentuch und zerknüllte es fest in der Hand. „Es kann doch nicht sein, dass er ein verschwendet. Er doch eigentlich unsterblich."

„Können Sie mir noch persönliche Informationen und ein Bild von ihm geben?", fragte ich die arme Frau und dachte an Vincenzo. Würde ich auch irgendwann mal so dasitzen und mich fragen, wo er ist und was er gerade macht? Konnte ich die nächsten Hunderte von Jahre mit ihm verbringen und mir dabei jeden Tag Sorgen um ihn machen, wenn diese Opus Dei Gruppe so aktiv war und Vampire einfach so von der Straße holte? Mir grauste vor dem Gedanken ihn zu verlieren. Tiefe Trauer überkam mich und sogleich spürte ich gleichfalls seine Trauer, die auf mich zurückprallte.

Ich muss mich konzentrieren. Ich war nicht hier um meine eigene Unfähigkeit auszuleben. Ich hatte versprochen mich, um die verschwundenen Vampire zu kümmern. So nickte ich aufmunternd der Dauerwelle zu: „Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden ihn finden. Viele Vampire in der Stadt suchen bereits nach ihm. Es wird nicht lange dauern. Wir vermuten bereits, dass die Kirche ihn hat. Aber sicher sind wir uns nicht. Auf jeden Fall werden wir etwas unternehmen. Bitte warten Sie, und bleiben Sie ruhig. Ich werde mich bei ihm melden." Ich verabschiedete mich. Es war traurig. Ich konnte die Frau gut verstehen, seinem Lebenspartner zu verlieren war schrecklich. Zumal der Mann mehr als einhundert Jahre als Vampir gelebt hatte. Eigentlich hätte er sicher sein sollen. Er war alt genug um Gefahr zu wittern. So stand ich mit einem Portrait von ihm wieder auf der Treppe. Es war ein älterer Herr um die fünfzig Jahre alt. Ein wenig graue Schläfen und eine Hornbrille auf der Nase. Sein breites Gesicht mit einem kleinen Schnauzer schaute freundlich die Kamera.

Er sah aus, als wenn er leben wollte.

Ich musste etwas unternehmen. Ich fühlte mich irgendwie verpflichte dazu und konnte etwas unternehmen, denn das Forum macht es mir möglich. 

Ich bin der Vampirengel (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt