33. Wissenshochburg

151 26 0
                                    

Beeindruckt stand ich vor dem alten Gebäude der Boston Public Library. Gemäß Wikipedia war sie die größte städtische öffentliche Bibliothek in den Vereinigten Staaten. Sie war die erste durch öffentliche Mittel unterstützte Einrichtung ihrer Art gewesen, die für die US-amerikanische Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und gleichzeitig die erste Bibliothek überhaupt, die es den Besuchern ermöglicht hatte, Bücher und andere Materialien auszuleihen und zu Hause zu nutzen. Nach den Angaben der American Library Association ist die Bostoner Bibliothek die zweitgrößte Bibliothek der Vereinigten Staaten, was die Anzahl der archivierten Bände angeht und eine der größten Bibliotheken der Erde.

Das imposante steinerne doppelstöckige Renaissance-Gebäude aus dem 1900 Jahrhundert selbst hatte den Status einer National Historic Landmarks und direkt an eine beeindruckende Domkirche mit zwei großen Glockentürmen angebaut, was den übermächtig starken Einfluss der Kirche in dieser Stadt eindeutig zeigte und alle anderen Einrichtungen neben sich verblassen ließ. Hier lagen alte Schriften jeglicher Art. Erstdrucke und Werke, die in der ganzen Welt nicht noch einmal vorkamen. Zusammengetragen von Anhängern gerade dieser, uns Vampiren so verhassten Kirche, um uns zu erforschen und irgendwie loszuwerden. Was sie meines Wissens nach bisher nicht ansatzweise geschafft hatten, aber immer wieder versuchten.

Es klappte. In der imposanten Eingangshalle wartete der Vampir am vereinbarten Treffpunkt, mit dem ich zuvor gechattet hatte. So konnte ich aufatmen, denn so viele Menschen auf einmal waren mir wirklich unangenehm. Diese ätzenden Gerüche so vieler Leute auf einmal und überlauten Geräusche auszublenden, fiel mir immer noch extrem schwer.

Mein Chatpartner sah freundlich aus. Er war bestimmt schon vom Aussehen her an die vierzig Jahre alt und trug eine Brille auf der Nase, so wie man es von einem studierten Arzt erwartete. Sein Aussehen war nicht schmächtig, aber er hatte nicht diese auf trainierten Muskeln von Vincenzo oder Gio. Er sah aus, wie ein gesunder vierzigjähriger Mann in seinen besten Jahren. Dabei trug er das Haar mit leichtem grauem Ansatz, eine braune Bundfaltenhose und ein weißes Hemd. Schlicht aber elegant.

Ich musste grinsen, als ich ihn sah. Es sah aus, als wenn er sich den Ansatz grau färben würde. Ich wusste, dass Vampire eigentlich genau in dem Zustand blieben, in dem sie verwandelt wurden. Daher vermutete ich, dass er höchstens dreißig Jahre alt war. Er machte sich aber Älter mit seiner Kleidung und Aussehen, um nicht weiter aufzufallen.

Wir erkannten uns einander sofort als Artverwandte. Vampire spürten andere Vampire und können sie auch sofort riechen. Er atmete tief ein und erstarrte fassungslos geschockt, als er mich am Eingang der Halle wahrnahm.

Ich schaute mich angespannt um und atmete erleichtert auf.

Kein anderer Mensch in der geschäftigen Halle war gleichfalls erstarrt. Also war es nur eine Reaktion auf mich. Gott sei Dank, dachte ich. Dabei trug ich schon ein Basecap zur Tarnung und hatte eine alte Jeans, ein blau kariertes Hemd und meine alten grauen Turnschuhe angezogen. Aber ich konnte mein Aussehen und überraschende Ausstrahlung gegenüber anderen Vampiren nicht wirklich verbergen.

Erstaunt starrte er mich wortlos an und riss überreizt seine Hand zu seiner Nase.

Entschuldigend lächelte ich ihn unzweideutig an, in der Hoffnung ihn nicht völlig aus der Bahn geworfen zu haben. „Hallo, ich bin James Camdon. Und ich bitte um Entschuldigung. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich vorher etwas gesagt hätte. Aber ich bin selbst noch nicht daran gewöhnt, dass ich diese Reaktion auf Vampire habe. Ich vermute, es sind bestimmte Pheromone, die dieses auslösen und bei Vampiren solch eine extreme Reaktion hervorrufen."

Aufgelöst nickte er mit aufgerissenen Augen hinter seiner dicken Brille und trat verwirrt einen Schritt zurück, um ein wenig Abstand von meinem beeindruckenden Einfluss zu gewinnen.

Das war kein guter Anfang, dachte ich. Hoffentlich fällt er nicht gleich aus seiner Rolle. Ich wollte hier in dieser Halle voller anderer Menschen nicht auffallen und schon gar nicht in einem der wichtigsten Wissensorte der katholischen Kirche. Daher beäugte ich ihn kritisch. „Ich hoffe, es geht? Meist gibt es sich nach ein paar Minuten. Falls Sie Fragen haben, beantworte ich gerne jede Frage zu meiner Person."

Er fing sich nach einigen Sekunden schwer atmend. Sein Blick wurde wieder normaler und er ließ seine Hand wieder von seinem Gesicht sinken.

Unsicher beobachtete ich ihn weiterhin. Immer mit dem Gedanken, an einen schnellen Rückzug. Wahrscheinlich wäre es doch besser gewesen, Gio mit zu diesem Treffen zu bringen. Aber das ließ sich nun nicht mehr ändern. Ich konnte nur hoffen, dass er sich wieder beruhigen würde. Also wartete ich vorsichtig ab und lächelte ihn weiterhin freundlich an.

Sein vorher verkniffener Blick wurde wieder sanfter, aber gleichzeitig konnte ich aufkeimende Lust in seinen schönen, hinter der Brille versteckten braunen Augen wahrnehmen.

Schmunzelnd lächelte ich ihn an, als ich seinen fragenden Gesichtsausdruck wahrnahm und beantwortete seine unausgesprochene, in den Raum imaginär gebrüllte Frage.

„Nein Danke. Ich bin schon vergeben und suche keinen Partner."

Der Vampir lächelte überrascht wissend und entspannte sich wieder, als er merkte, dass er mit seinen Gefühlen und seiner Wahrnehmung so weit abgedriftet war. „Ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte nicht damit gerechnet, jemanden zu begegnen, der solch einen Geruch abgibt und gleichzeitig eine Reaktion meinerseits auslöst. Das ist ja wirklich unglaublich. Ich lebe nun auch schon mehr als zweihundert Jahre, aber...ich darf doch du sagen?"

Ich nickte wahnsinnig erleichtert, als ich bemerkte, dass er wieder auf den Boden der Realität zurückgekehrt war.

Entschuldigend sah er mich mit warmen Gefühlen an. „Ich heiße Spencer Kosman. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht wirklich bemerkenswert. Du löst in mir sofort das Bedürfnis aus, dich beschützen und in den Arm nehmen zu wollen. Ich habe einfach das überwältigende Gefühl, dass du beschützt werden musst, wie ein frisch geborener Welpe. Denn Rest meiner Gedanken möchte ich nicht ausführen. Aber du bist einfach unglaublich", sagte er und schüttelte ungläubig den Kopf und schnüffelte noch mal vorsichtig, die Nase leicht anhebend, während sich seine Nasenflügel zusammenzogen.

Erleichtert lachte ich hell auf. „Warte mal, bis du mich ohne Basecap und Brille gesehen hast. Bereite dich auf einen weiteren Schock vor und das ist auch der Grund, warum ich hier bin."

Er nickte verstehend. „Danke für die Warnung", und schüttelte den Kopf, als Versuch seine Gedanken wieder klar zu bekommen, um wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen. Denn es gab schließlich einen Grund, warum ich den langen Weg aus New York hergekommen war.

„Wir sollten zur Ausleihe gehen. Hinten gibt es ein Kaffeeshop mit ruhigen Leseecken, dort können wir uns hinsetzen und recherchieren und ich hätte wirklich ein paar Fragen zu deiner Person."

Zustimmend nickte ich und wir stellten uns mit vielen anderen Menschen in der zentralen Abholstelle für die Bücher an, um die Bücher abzuholen, die ich bereits zuvor im Internet vorbestellt hatte.

Ab und zu nickte ich an meinem mitgebrachten Blut-Drink, aber ich konnte mit den vielen Menschen gut umgehen.

„Ach, hier seid ihr. Die Schlange ist aber lang. Ist alles so weit in Ordnung? Ich würde draußen beim Auto bleiben. Ich stehe in einer Wartezone und habe keinen Parkplatz in der Nähe gefunden. Dies ist wirklich eine gruslige Stadt."

Verdattert schaute ich mich um, da ich das Gefühl hatte, dass auf einmal die Atmosphäre im Raum um ein paar Grad gesunken war.  

Ich bin der Vampirengel (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt