Erneut stand ich in der imposanten Eingangshalle der Bostoner Zentralbibliothek und sog genüsslich den angenehmen, trockenen, verstaubten Duft der Bücher ein, die zu Tausenden in den hohen, langgestreckten Regalen im Hauptsaal standen und derer, die in den Archiven unter der Erde eingelagert waren. Im Gegensatz dazu, schlug mir aggressiv, der so schmackhafte, alles durchdringende Blutgeruch der vielen anwesenden Menschen entgegen.
Gott sei Dank belastete mich dieser Blutgeruch nicht mehr so stark, wie am Anfang, als ich das Gefühl hatte, nicht mal mit Menschen in einem Raum sein zu können.
Insgesamt fühlte ich mich nun selbstbewusster. Jetzt wo ich wusste, dass ich nicht mehr nur von meinem Instinkt gesteuert wurde und ich jederzeit Zugang zu Blut hatte. Auch wenn ein Vampir eigentlichen dem ultimativen Geruch kaum widerstehen konnte, lernte er mit der Zeit bestimmte Gerüche eine Zeitlang auszublenden, da ansonsten der Cocktail aller zusammenfließenden Gerüche einen wahnsinnig machen würde. Wer will denn schon die ganze Zeit ein ätzendes, aufdringliches Parfüm gemischt, mit dem nicht geputzten, bepissten, stinkenden öffentlichen Klo riechen?
Ich war also in der Lage mich frei zu bewegen und wusste indessen, was ich konnte und wenigstens halbwegs, wer ich war. Für den Rest war ich hergekommen. Diese Masse an Büchern musste doch etwas beinhalten, was mir irgendwie bei meinem Problem weiterhelfen konnte, dachte ich.
Ich blickte mich kurz um und entdeckte meine angebliche 'geheime' Begleitung. Salvatore ließ mich wirklich keinen Schritt machen, ohne, dass mich ein bis zwei Bodyguards auf Abstand begleiteten. Diese überdreht aussehenden Panzerschränke auf zwei Beinen war schon nervig. Aber dadurch fühlte ich mich wesentlich sicherer. Sie würden mich beschützen und wieder aus dem Gebäude bringen, falls ich aus der Rolle fallen oder der Opus Dei in irgendeiner Weise übergriffig werden würde.
Harry und Sally, wie ich sie im geheimen getauft hatte, verhielten sich relativ unauffällig in meiner Gegenwart. Aber jeder von uns, konnte einen anderen Vampir auf mindestens einhundert Meter sofort ausmachen. Also konnten sie sich nicht vor mir verstecken. Sie wussten das und ich wusste, dass sie da waren.
Dieses Mal war mir Harry gefolgt. Er war wirklich riesig und sah irgendwie fehl am Platz aus. Einige Besucher schauten nervös zu ihm hin. Aber keiner fragte nach, warum dieser verwegen aussehende riesige Typ mit eingefallenen markanten Gesichtszügen, zwar mit einer Bluejeans, aber im maßgeschneiderten dunkelblauen Jackett, in der Haupthalle herumstand und die Menschen beobachtete, ohne ein Buch in der Hand zu haben, oder irgendwas anderes Sinnvolles zu tun. Kein anderer Mensch stand einfach so hier herum. Jeder hastete in irgendeine Richtung. Meist mit Bücher unter dem Arm, oder einer schweren Tasche, welche gleichfalls mit Büchern gefüllt war.
Ich vermutete, dass Sally im Wagen vor der Tür wartete. Wie ich von meinem ersten Besuch wusste, gab es nur ein Parkhaus, aber keine kurzfristige Abstellmöglichkeit für Autos vor der Tür, sodass einer von ihnen am Wagen bleiben musste. Gut, dass sie entscheiden haben, dass es Sally war, der beim Wagen wartete. Er sah aus wie ein Schwerverbrecher, mit einem Lippenpiercing und ausgeleierten Ohren. Ich vermutete, dass er mal irgendwann aus der Mongolei seinen Weg zu Salvatores Truppe gefunden hatte. Jedenfalls hatte er einen verschlagenen Ausdruck, mit seinem kugligen Kopf ohne Haare.
Wäre er nicht einer von Salvatores Männern, würde ich sogar am helllichten Tage die Straßenseite wechseln, wenn ich ihn treffen würde bei meinen Spaziergängen. Er war mir einfach unheimlich.
Resigniert über Salvatores Verfolgungswahn nickte ich Harry zu, bevor ich mich wie jeder andere an der Ausgabestelle für Bücher anstellte.
Dieses Mal wusste ich wenigstens, wie das in dieser Bibliothek funktionierte und hatte mir einen Studentenausweis zuvor über das Internet besorgt. Die Erfindung des World Wide Net war eine der besten Erfindungen neben dem Auto und der Waschmaschine der letzten zweihundert Jahre und für Vampire die ultimative Hilfe. Einfach irgendwelche Daten bei der Universität angeben und schon war man gegen einen kleinen Obolus regulärer Student der UMASS, der University of Massachusetts Boston. So konnte man sogar an Onlinekursen teilnehmen und bekam Studentenermäßigung bei verschiedenen Eintritten. Also hieß ich jetzt Jamie Cameron und war Student im ersten Semester, mit dem Schwerpunkt der Erforschung religiöser Mythen. Meine Masterarbeit wollte ich offiziell zum Thema Engel in der Mythologie im Verhältnis zu möglichen wissenschaftlichen Erklärungsansätzen machen. Ich hoffte, diese Erklärung reichte aus, um einen weiteren Schwung interessanter Bücher an der Ausgabe zu erhalten, die üblicherweise nicht in den Regalen herumstanden und aus dem Archiv herausgesucht werden mussten, da sie nicht für jeden zugänglich waren.
Die freundliche ältere Dame an der Ausgabe registrierte meine Daten und überreichte mir meinen gedruckten Leseausweis aus hellbauem Plastik. So ausgestattet und ordnungsgemäß angemeldet überreichte ich ihr meine kurze Liste mit angeforderten Büchern. Eine halbe Stunde später wurde meine Nummer aufgerufen und ich konnte die Bücher abholen, die schon recht verstaubt aussahen.
Gemütlich zog ich mich in das Lesecafé zurück und packte meine mitgebrachte Thermoskanne mit Blut aus. Anschließend bestellte ich mir einen Kaffee Latte und überflog kurz meine Bücherauswahl. Mythologie, Geschichte, Religion und Esoterik.
Motiviert goss ich mir einen kräftigen Schluck Blut in meinen heißen, jetzt gut riechenden Latte und stellte fest, dass ich hier perfekt saß. Keiner konnte in meiner Ecke sehen, dass ich mit der doppelten Geschwindigkeit die Bücher las und nur die entscheidenden Stellen herauskristallisierte.
Wieder mal enttäuscht legte ich nach kurzer Zeit die ersten zwei beiseite. Dort standen nur die üblichen Informationen, die jeweils in anderer Form das Wissen wiedergaben, welches ich bereits kannte. Aktuellere Bücher bereiteten das Thema immer nur wieder auf. Kein Buch hatte bisher entscheidende Informationen gebracht, warum ich die Zeit stoppen konnte und warum meine Emotionen durch Licht sichtbar wurden.
Alles war nur Mythologie oder Esoterik, ohne irgendwelche Nachweise oder Vergleichbarkeiten. Es war wirklich enttäuschend.
Ich nahm seufzend das nächste Buch zur Hand und schaute auf die erste Seite. Immerhin war es aus dem achtzehnten Jahrhundert. Das Papier war vergilbt und das Englisch noch in britisch ausgeführt. Für mich als Amerikaner war es schwieriger zu lesen. Aber ich blätterte es interessiert durch. Teile der Informationen waren Übersetzungen aus dem Lateinischen, die sich auf ein altes lateinisches Buch mit dem Namen Mythologia Angelorum aus dem siebzehnten Jahrhundert bezogen.
Ich schrieb mir den Titel auf meinen Block und stellte mich erneut an der Ausgabe an. Es erschien mir zwar unwahrscheinlich, dass gerade diese Bibliothek solch ein altes Buch hatte, aber die Bostoner Zentralbibliothek rühmte sich dafür, viele alte Literatur aufzubewahren oder sie sonst organisieren zu können. Zumindest ging ich davon aus, dass sie mir helfen konnten, das Buch aufzuspüren. Ich bekam eine Wartelistennummer und setzte mich zurück in das angeschlossene Café vor die Wartetafel mit dem Nummernaufrufen und vertiefte mich erneut in meine Bücher.
„Jamie Cameron?"
Ups, dachte ich, welch eine sanfte melodische männliche Stimme, die mir eine wohlige Gänsehaut über den Rücken laufen ließ.
Vor Überraschung begannen meine Bücher von meinem Schoß zu rutschen und meine Wartenummer flatterte gleichfalls keck hinterher. Hecktisch griff ich nach den Büchern, die ich noch aufhalten konnte, aber der kleine Zettel segelte weiter, bis vor schwarz glänzende Schuhe.
Eilig beugte ich mich vor, um mein Malheur aufzuheben.
Aber die glänzenden Schuhe, beugten sich überraschenderweise gleichzeitig vor, um zuzugreifen, als ich danach tasten wollte.
Verblüfft kamen wir beide hoch, wobei wir uns mit einem Mal sehr nah waren.
Er roch gut nach trockenem Staub, der warme Duft des Weihrauchs und echter Tinte.
Mein Blick glitt eilig an ihm entlang. Glänzende gepflegte Schuhe, ein langer schwarzer Rock. Meine Augen weiteten sich, als sie weiter hinauf wanderten, seinen schlanken Körper entlang. Groß gewachsen. Die vielen Knöpfe hinauf, an seinem Oberkörper entlang zu einem schwarzen gestärkten Kragen mit weißem Absatz. Bis ich in seinem Gesicht ankam, welches mir mit einem kleinen Schmunzeln entgegenblickte.
Älter, aber ein hübscher, gut riechender Kerl, war mein erster Gedanke.
Schitt! Ein Priester, Opus Dei! Mein zweiter.
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Ich bin der Vampirengel (BoyxBoy)
VampirgeschichtenEs gibt Vampire, aber ein Vampirengel? Ein Widerspruch in sich! Wie kann das sein? Wie kann ich das sein? Warum bin ich schon wieder anders? Kann ich nicht sein wie jeder andere? Was will dieser Mann von mir? Dies ist der fast ausweglose Kampf von J...