61. Wer ist das?

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In meiner schmalen Küche zwischen den Küchenschränken lag ein vollkommen nackter Mann im Licht der offenen Kühlschranktür auf dem Boden.

Nackt. Am Boden. Ohne Kleidung. Bäuchlings.

Wer war das? Wie kam er in meine Küche? Wieso hatte er nichts an? Wie war er in meine Wohnung gekommen? Wieso war mein Kühlschrank offen? Hatte er den Behälter heruntergerissen?

Aufgeregt sah ich mich um. Wo waren die Augen hingekommen? Der Behälter lag umgestürzt an seinem Kopf.

Atemlos starrte ich auf ihn herab. Was sollte ich tun? War er gefährlich? Er war wesentlich größer als ich und sah stark aus.

Ich musste etwas unternehmen. Er konnte hier nicht liegen bleiben. War er ohnmächtig?

Ich kniete mich zu seinen kräftigen nackten Füßen, welch in meine Richtung zeigten. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, da dies in Richtung des Bodens lag.

Abwartend beobachte ich ihn besorgt.

Er bewegte sich minutenlang nicht. Aber er atmete. Ich konnte sehen, wie sich im Licht des Kühlschranks sein Brustkorb auf und ab bewegte.

Was machte dieser Mann in meiner Wohnung? Fragte ich mich erneut.

Leise sprach ich ihn an, um ihn nicht zu erschrecken. Nicht, dass er aggressiv wurde: "Entschuldigung. Können sie mir sagen, was sie hier machen? Sie liegen hier in meiner Küche. Sind sie ein Vampir?"

Ungeduldig wartete ich. Aber es kam keine Reaktion. Vorsichtig griff ich mit meiner kalten Hand nach einem seiner Füße und schüttelte ein wenig daran.

Gleichfalls keine Reaktion.

Minutenlang wartete ich erneut. Es kam keinerlei Reaktion. Langsam wurde es mir unheimlich. Ich vermutete, dass er ohnmächtig war. Er konnte hier auf keinen Fall liegen bleiben. Er lag direkt vor dem offenen Kühlschrank. Die Tür ging nicht zu. Meine Blutvorräte konnten schlecht werden und der Mann könnte sich den Tod holen. Ich musste auf jeden Fall etwas unternehmen.

Ich holte meine Decke aus dem Schlafzimmer. Er sah schwer aus. Ich hatte zwar mehr Kraft als Vampir, aber ob das reichen würde, wusste ich nicht.

Also vorsichtig agieren, dachte ich.

Ich breitete die Decke neben ihm auf dem Boden aus.

Achtsam fasste ich ihn an die Schulter und schüttelte ihn vorsichtig. Es kam immer noch keinerlei Reaktion. Seine Haut fühlte sich eisig an.

Er könnte ein Vampir sein, dachte ich.

Fest griff ich nach seiner Schulter und rollte ihn von der Seite, auf den Rücken, sodass er auf der Decke zu liegen kam.

Es klappte. Er sah nicht verletzt aus, keine Hämatome oder Wunden, nur nackend.

Erleichtert schaute ich auf ihn. Sieht gut gebaut aus, in jeglicher Hinsicht. Schön ausgearbeitete Muskeln. Alles an der richtigen Stelle. Und eine Länge in seiner Mitte, die nicht zu verachten war.

Ich musste grinsen. Salvatore bekam Konkurrenz.

Von mir selbst überrascht, schüttelte ich den Kopf. Ich musste mich konzentrieren. Seine Weichteile gingen mich nichts an.

Ich ging zurück zum Fußende und zog an der Decke, in der Hoffnung, dass ich ihn so aus meiner Küche bekam. Er war nach der Länge der Decke zu urteilen locker ein Meter fünfundneunzig und breit in den Schultern gebaut.

Ächzend versuchte ich es. Das konnte nicht sein. Warum war dieser Mann so schwer? Ich zog nochmal. Ahh ... die Decke bewegte sich ein wenig.

Ich überlegte. Ins Wohnzimmer war zu weit. Der Eingang in mein Schlafzimmer lag fast gegenüber. Also dorthin. Ich warf mich ins Zeug und zog und zog.

Man, der wiegt bestimmt einhundert Kilogramm. So ein Riese.

Ich stemmte meine nackten Beine in den Boden und zog unter Mühen weiter. Es klappte.

Mir brach der Schweiß aus. Ich bekam ihn zumindest ins Schlafzimmer. Aber auf das Bett heben, das hätte ich nie geschafft. Ich konnte ihn aber auch nicht nackend auf dem kalten Boden liegen lassen. Einen erkälteten Vampir kannte ich zwar nicht, aber er könnte auch ein Mensch sein. Seine Zähne hatte ich bisher noch nicht zu sehen bekommen. Also weiter zerren und ziehen.

Ich konnte eine Matratze vom Doppelbett herunterheben. Da könnte ich ihn gut darauf platzieren. Mit Schwung konnte das klappen. Die Matratze war nicht so hoch.

Mühselig zog ich weiter an der Decke, immer in der Sorge, dass diese reißen könnte. Aber es ging. Schwer atmend zog sie neben die Matratze, die ich zuvor heruntergezogen hatte.

Gut, jetzt hinüberrollen, mit Schwung. Er könnte ja mal helfen, dachte ich genervt und stöhnte. Nochmal Schwung.

Jetzt lag er auf dem Bauch.

Das sieht nicht gut aus. Stabile Seitenlage wäre besser. Das bekomme ich hin. Habe ich doch in der Fahrschule gelernt. Ich sortierte Arme und Beine in die richtige Lage.

Er lag nun nackt in einer seitlichen embryonalen Haltung auf der Matratze. Ich zog ein weiches Kissen von meinem Bett herunter und betete es unter seinem Kopf. Er hatte ein schönes Gesicht. Markant und eine gleichmäßige Nase. Sanft streichelte ich über sein kurzes Haar. Es fühlte sich soft an. Weicher als mein eigenes Haar.

Er kann schlecht hier nackend liegen. Warm ist es nicht, trotz der Matratze. Ich schüttelte die Decke aus. Der Boden war nicht besonders schmutzig gewesen. Das musste reichen, dachte ich und deckte ihn ordentlich zu. Zufrieden schaute ich auf meine Arbeit.

Oh, Gott! Ich hatte die Augen vergessen! Aufgeregt rannte ich zurück in die Küche und machte das Licht an. Gleißend hell ergoss sich das Neonlicht in den Raum und blendete mich kurz.

Der Behälter lag am Boden, zerborsten. Ein wenig weiß rote Flüssigkeit klebte darum und hatte sich in einzelnen kleinen Tröpfchen auf dem Boden verteilt.

Rasch schaute ich mich um und suchte alles ab.

Das konnte nicht sein. Hier war keine Flüssigkeit mehr und keine Augen. Baff schloss verwundert die offenstehende Kühlschranktür.

Was war geschehen? Das konnte nicht sein! Ich war mir nicht sicher, aber könnte das wirklich passiert sein? Dann war das ein medizinisches Wunder. War der Mann wirklich aus der Flüssigkeit und den Augen so schlagartig entstanden? So etwas gab es nicht! Das war wissenschaftlich völliger Blödsinn. Aber was wusste ich den schon? Ich war, so wie es aussah, auch einmalig in der Welt. Wer konnte schon die Zeit anhalten, außer mir. Also, es gab immer wieder Dinge auf der Erde, die keiner erklären konnte. Wollen wir sagen, dass die Forschung bisher noch nicht so weit war. Also es schien wirklich unwahrscheinlich, dass ein Mann aus ein wenig Flüssigkeit entstehen konnte. Aber eine andere Erklärung konnte ich mir nicht vorstellen. Ich würde seine Augen wiedererkennen, wenn er sie öffnen würde und ich könnte ihn fragen. Vielleicht hatte sein Bewusstsein überlebt. Alles war möglich. Nebel. Er brauchte auf jeden Fall Blut. Wahrscheinlich war er ein Vampir.

Ich öffnete die Kühlschranktür und nahm einen Thermobecher heraus. Diesen füllte ich mit rotem Blut und nahm ihn mit ins Schlafzimmer. Ich stellte ihn neben dem Mann an der Matratze ab, sodass er den Behälter als Erstes sah, wenn er aufwachen würde.

Erschöpft setzte ich mich auf mein Bett und schaute nach unten. Er war schön, keine Frage. Aber war er Voltus, meine Augen? Ich wusste es nicht. Ich konnte es nur vermuten. War bei ihm alles in Ordnung? Waren alle Organe vorhanden? Ich musste morgen unbedingt Spencer anrufen. Er musste diesen Mann durchchecken.

Sinnierend schaute ich müde im Nachtlicht auf das schöne ebenmäßige Gesicht.

Wir werden sehen, wer er ist.

Ich bin der Vampirengel (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt