66. Gott verzeiht nicht

87 21 0
                                    

Perplex schaute ich auf den gutaussehenden Mann vor mir. Ich schätzte ihn auf circa fünfzig Jahre. Klassischer Typ. Wahrscheinlich der Liebling aller Frauen beim Kirchgang. Angegrautes dunkles Haar. Mindestens ein Meter neunzig groß, mit markanten Gesichtszügen, ordentlich rasiert. In einer langen schwarzen Soutane, in die im vorderen Teil ein kleiner weißer Kragenansatz eingearbeitet war.

Gut sah er für sein Alter aus, stellte ich neidlos fest. Ein Verführer. Ein Kirchenmann, mit dem sanften Aussehen eines verständnisvollen Mannes. Einer, der sich deine Sorgen anhörte und Verständnis für dich aufbrachte. Einer der sagte, dass Gott dir verzeihen würde, egal, was du getan hast. Einer, der sagt, dass Gott dich in den Himmel aufnehmen würde.

Ich wusste aber, dass dem nicht so war. Es gab die Hölle. Nicht nur die im Jenseits, sondern auch die, auf der Erde. Ich hatte sie kennengelernt. Ich hatte gelernt, dass Gott nicht verzieh. Ich wusste, dass ich nun nicht mehr Gott gefällig war. Dass ich und alle anderen, die wie ich waren, der Abschaum für die Kirche waren. Dass ich nicht auf der Welt sein durfte. Vampire gehörten nicht auf diese Welt nach Ansicht der Kirche. Wir kamen nicht in der Bibel vor und konnten nur vom Antlitz dieser Erde getilgt werden. Das war die offizielle Meinung, dieser ach so wichtigen, großen gottgegebenen Kirche. Jeder, der anders war, musste verschwinden.

Somit war dieser selbsternannte Mann Gottes der natürliche Feind aller Vampire. Wut brandete in mir auf. Er sah so freundlich aus. Er war mein Typ, aber er war auch mein Feind! Was wollte dieser Verführer von mir und wer war er? Er war für sein Alter wirklich attraktiv und hatte diese warme Ausstrahlung, die mir das Gefühl gab, mich an ihn lehnen zu wollen.

Seine Augen weiteten sich, als er mich näher betrachtete, während ich die Augen aufgebracht zusammenkniff.

Mist, dachte ich und rutschte ein ganzes Stück auf meinem Stuhl zurück. Hatte er erkannt, dass ich ein Vampir war? Kaum. Ich sah nicht aus wie ein typischer Blutsauger. Ich war viel kleiner und unscheinbarer.

„Ja?", beantwortete ich seine Frage nach meiner Person verhalten lächelnd und starrte ihn abwartend an.

Ich Trottel hätte nicht herkommen dürfen, ärgerte ich mich wütend mich über selbst. Ich hätte nicht gedacht, dass die Kirche wirklich aktiv in der Hauptbibliothek ist. Das hier ist doch nur eine einfache Stadtbibliothek!

Er lächelte freundlich, streckte seine wohlgeformte Hand vor und gab mir die Nummer zurück.

Ich nickte dankend und nahm sie, obwohl ich die ganze Zeit das Gefühl hatte einfach aufspringen zu wollen, um wegzulaufen. Weg von der Kirche. Weg von diesem gut riechenden Mann. Ich roch Blut? Stellte ich verwundert fest.

„Sie sind doch Jamie Cameron?", fragte er nochmal zur Sicherheit nach.

Irgendwie machte er mir Angst. Gleichzeitig strahlte er etwas Warmes, so Angenehmes aus. Etwas, was mir das Gefühl gab, mich unbedingt an ihn schmiegen zu wollen. Weich und wohlig. Meine Haut kribbelte verlangend.

Aber ich vermutete, dass er kein kuschliges Schaf war. Er war vermutlich eher der dunkle gefährliche Wolf unter den ganzen wolligen kuschligen Schäfchen der Herde Gottes.

Sein Blick war streng und wissend. Fast beißend. Als wenn er durch einen hindurchblicken konnte. Einer, der das Wissen der Welt in seinem Blick hatte. Einer, der mehr wusste, als die meisten Menschen je würden wissen wollen. Der Geheimnisse aufbewahrte, wie andere, ihre alte Schallplattensammlung. Er wusste, dass es noch andere Lebewesen, außer Menschen und Tiere auf der Erde gab. Dieser wissende Blick machte mir Angst.

Aber er war vermutlich der Schlüssel zu einem Wissen, welches mir sonst keiner zur Verfügung stellen konnte. Ich musste ihm mit ihm sprechen und ich musste darauf vertrauen, dass er nicht erkannte, was ich war. Ich war im Moment nur ein Student, der seine Arbeit schrieb. Nichts weiter als das. Er konnte mir meine Fragen vielleicht beantworten. Er war vermutlich derjenige, der Licht ins Dunkle bringen konnte. Besser gesagt, der mir mein eigenes Leuchten wahrscheinlich erklären konnte.

Ich bin der Vampirengel (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt