53. Boston

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„Ja, ich bin daheim... Alles ist gut verlaufen... Nein, mir ist nichts passiert. Du musst dir keine Sorgen machen... Ja, die anderen haben aufgepasst. Es ist nichts Ungewöhnliches passiert."

Überlegend schaute ich auf diese eindringlichen Augen, die in dunkelrotem Blut vor mir schwammen und mich so lebendig anschauten. Fast hatte ich das Gefühl, ich könnte sie streicheln. Wie eine kleine Babykatze.

Vincenzo musste nicht alles wissen, dachte ich und konzentrierte mich wieder auf mein Telefonat, schließlich war mein Lieblingsvampir an der Strippe: „Nein.....nein.....nein... Gut, ich melde mich Ende der Woche nochmal... Ja, ich komme zum nächsten Clantreffen."

Ich legte auf. Es war immer das Gleiche mit Salvatore. Nun war ich schon sechs Monate in Boston und er rief immer noch jeden Tag an. Es war gut, dass ich auf Abstand gegangen war. Ich konnte endlich zu mir selbst finden. Ich hatte mich gut eingelebt und ich war selbstständig. Ich wusste, wo ich hingehörte. Und ich hatte meinen eigenen Clan!

Natürlich war es am Anfang recht schwierig gewesen. Gerade mit Salvatore. Er lief prompt nach meinem Verschwinden zu seiner Höchstform auf, obwohl ich ihn am selben Abend noch anrief und mich für mein Verschwinden entschuldigte.

Schon einen Tag später setzte er alles in Gang, um mich zurückzuholen.

Was ich aber rigoros abgelehnt hatte.

Bei mir hatte alles gut geklappt nach meinem sang- und klanglosem verschwinden. Ich hatte mir im Einkaufszentrum einen Mietwagen genommen und war direkt nach Boston gefahren. Dort hatte mich der freundliche Vampir an einem neutralen Treffpunkt empfangen und war mit mir zu meiner neuen Wohnung gefahren. Er übergab mir den Schlüssel und zeigte mir alles. Die Wohnung war einfach wunderbar und vollständig eingerichtet. Sie hatte drei Zimmer und diesen wunderbaren Blick auf den Bostoner Hafen. In einem Raum lagerten noch Kartons mit dem Inhalt meines Vorgängers. Ich sollte sie durchsehen und den Rest im Keller unterbringen. Meine Versorgung mit Blut war durch die Vermittlung meines Vorgängers weiterhin sichergestellt und wurde regelmäßig geliefert.

Wovor es mich wirklich gegrault hatte, war mein erstes Telefonat mit Salvatore. Ich konnte mir richtig vorstellen, dass er bereits in seiner Wohnung wütend hin und her lief und auf meinen Anruf wartete, während seine besten Freunde um ihn herumsaßen und auf seine Weisungen warteten.

Gut, ich konnte es nicht aufschieben. Also rief ich am gleichen Abend an.

Gio ging an Salvatores Telefon. „Hallo James. Schön, dass du dich meldest. Du hast wirklich Mut!"

Mir verschlug es die Stimme. „Gio!"

„Jep!"

„Salvatore?"

„Mhh...Was glaubst du?"

Mir lief das Wasser kalt den Rücken herunter. „Ich weiß nicht?"

„Ich dachte, ich müsste ihn anketten. Er sitzt gerade mit allen im Wohnzimmer bei einer Lagebesprechung. Aber nicht wegen Opus Dei."

„Mhh..." Mir wurde schlecht.

„Wir hatten echte Probleme ihn zu beruhigen"

„Ich gehöre nicht zu seinem Clan", sagte ich.

„Ich weiß, aber glaubst du, dass er sich sein Liebchen abhandenkommen lässt? Du willst nicht wissen, wie er deinen Aufpassern den Marsch geblasen hat. Ich dachte, es würde hier Tote geben."

„Du weißt selbst, dass es aktuell die beste Lösung ist."

„Mhh... ja, das ist mir klar. Aber ich habe die Folgen nicht bedacht."

Gio tat mir leid, da er meine Fehler immer wieder ausbaden musste, aber es war nicht zu ändern. „Kann ich ihn sprechen?", fragte ich.

Ich konnte das Gespräch nicht aufschieben.

„Ich hole ihn herüber. Warte!"

Ich war nun am ganzen Körper schweißnass. Aber es musste sein. Wir brachten uns beide in Gefahr, wenn wir zusammengeblieben wären. Eine Trennung war in der aktuellen Situation das Beste für uns beide.

Salvatore nahm den Hörer auf und sagte mit ruhiger, gleichmütiger Tonlage: „Hallo James."

Ich war zu keiner Antwort fähig. Ich wusste, er riss sich zusammen, um nicht in den Hörer zu schreien. Ich vermisste ihn jetzt schon. Mir zog sich der Magen schmerzhaft wie Säure brennend zusammen. Ein jähes Gefühl der Einsamkeit und des Verlustes überkam mich. Was gab ich da auf? War es das Richtige? Ich konnte nicht mehr klar denken.

„James, ich kann dich atmen hören. Wo bist du? Ist alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?" Panik sprach aus Salvatores Stimme.

Ich spürte seine Hilflosigkeit und seine Unruhe. Seine Gefühle übertrugen sich bis zu mir und ich nahm sie mit allen Sinnen wahr. Sein Clan musste diese eisigen Schmerzen gleichfalls spüren.

Ich vermutete, die anderen hatten ihm die Lage schon erläutert. Mir schnürte es die Kehle zu, aber es war nicht zu ändern. Ich musste mich von ihm fernhalten. Wir konnten so nicht weitermachen. Ich bin eine eigenständige Persönlichkeit und ich musste meinen eigenen Weg finden. Entschuldigend versuchte ich es anzubringen: „Salvatore, es tut mir unendlich leid. Ich erkläre dir alles. Ich bin in Boston. Ein Vampir hat mir seine Wohnung zur Verfügung gestellt. Meine Blutversorgung ist sichergestellt und ich bin gesund und munter. Du musst dir keine Sorgen machen." Weiteres wollte ich erstmal nicht sagen. Ich spürte seine Emotionen, konnte ihm aber nicht helfen.

„Gut", sagte er. „Gio sagte, ich solle ruhig bleiben. Es regt mich so auf. Ich vermisse dich so."

„Ich vermisse dich auch.", sagte ich leise. Es schnürte mir die Kehle zu. Er war mein Held. Er hatte mir das Leben gerettet. Ich wollte ihn nicht verletzten. Er wusste das, hoffte ich. Aber ich war nicht sein Liebchen und ich wollte nicht nach seiner Pfeife tanzen. Ich war genauso ein Vampir und ich musste lernen eigenständig zu leben und konnte nicht die nächsten tausend Jahre von ihm abhängig sein. Ich wollte das so nicht. Aber ihm war dies wahrscheinlich nicht klar. Ich hoffte, ihn nicht allzu sehr verletzt zu haben. Aber Sal war keiner, der einfach aufgab. Das wusste ich, nachdem er alles in Gang gesetzt hatte, um mich zu sich zu lotsen und mich dann nach seinem Vergnügen zu formen, seinem Engelsvampir.

„Kann ich dir jemanden schicken, der auf dich aufpasst?", hörte ich seine gepresste Stimme.

Er tat mir leid und ich hätte fast nachgegeben. So überwältigt war ich von seiner Stimme und den Emotionen, die hier ankamen. Ich überlegte. Aber es überzeugte mich nicht. Ich hatte hier keine Möglichkeit noch jemanden unterzubringen und ich wollte nicht die ganze Zeit überwacht werden. „Salvatore, du weißt, ich gehe kaum außer Haus. Du brauchst zurzeit deine Leute bei dir. Die Opus Dei wissen um euch, also bist du mehr gefährdet, als ich hier allein. Keiner weiß, dass ich hier bin."

Er antwortete nicht. Ich konnte seine starken Emotionen erneut über diese Entfernung spüren. Trauer, Unverständnis, Wut, Ärger, Unmut. All das übertrug sich und schlug in meinem Kopf dumpf ein. Fast taumelte ich unter der Belastung dieser fremden Emotionen, die nicht meine eigenen waren.

Ich musste das Telefonat unbedingt beenden. Es war für uns beide schmerzhaft. Es brachte uns beiden nichts.

„Ich melde mich in einer Woche. Es tut mir leid." Ich drückte den Knopf und sank auf den Fußboden. Traurig schaukelte mich hin und her. Es tat so weh.

Wieder war ich allein. Doch diesmal wollte ich es so!

Ich bin der Vampirengel (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt