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Julian ~

Ich starre den Kuchen an, der vor mir auf dem Küchentresen steht. Besser gesagt die Torte. Irgendwas ist mit der Torte, aber ich weiß nicht was. Sie sieht verdammt lecker aus. So mit Waldbeeren und darüber Tortenguss. Die Heidelbeeren sind so angeordnet, dass sie eine 28 formen. Mehr kann ich über die Torte nicht sagen, da sie noch in einem Tortenring steckt. Das Wort habe ich übrigens von Amina gelernt.

Amina... jeder verdammte Gedanke an sie schmerzt einfach. Ich verstehe es selbst nicht. Amina würde sagen, das sind eben Geburtstage. Da ist man besonders 'vulnerabel', meint sie.

Egal. Jedenfalls irritiert mich an der Torte, dass sie so gar nicht gekauft aussieht. Die, die man in einer Konditorei kauft, kommen meistens in so einem Pappkarton und haben keinen Tortenring drumherum. Höchstens so Papier- oder Plastikfolie, damit die Torte nicht am Karton klebt. Hat Jannis mir eine Torte gebacken? Ich habe den Gedanken noch gar nicht richtig ausgedacht, da muss ich innerlich schon darüber lachen. Keine Chance, dass der Chaot auch nur annähernd in der Lage dazu ist, so eine Torte zu backen, geschweige denn, so viel Liebe für mich hat, um es überhaupt zu versuchen. Ich erinnere bloß an seine Geburtstagsnachricht heute morgen.

Plötzlich spüre ich einen sanften Windhauch an meinem Rücken, gefolgt von einem blumigen aber dennoch dezenten Duft. Ein verdammt vertrauter Geruch. Gott, jetzt halluziniere ich schon. Augenblicke später, spüre ich eine warme Berührung an meinem Rücken. Ehe ich mich umdrehen kann, werden meine Augen von zwei verhältnismäßig kleinen, zarten Händen verdeckt.

Mein Herz springt mir fast aus der Brust. Das passiert gerade wirklich, oder? Das ist doch kein beschissener Traum, aus dem ich gleich erwache, oder? Aber es kann doch nicht sein, oder?

Ich spüre, wie sich ein Paar Lippen dicht an mein Ohr legen, was mir eine krasse Gänsehaut im Nacken beschert. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Um mich herum, nehme ich nichts wahr. Die Welt könnte in diesem Augenblick untergehen und ich würde es nicht merken.

Dann dringen die schönsten zwei Worte an diesem Tag, an mein Ohr. Wie eine sanfte Welle, durchfluten sie mich.

"Überraschung, Juli"

Ich kann nicht länger warten. Ruckartig nehme ich die Hände von meinen Augen und drehe mich in die Richtung, aus der die Welle kam.

Amina. Lächelnd steht sie in meiner Küche. Tatsächlich. Ich kann es noch immer nicht glauben. Wenn das ein Traum ist, dann fühlt er sich echter an, als jeder Traum, den ich bisher hatte.

Ich bekomme keinen Ton aus mir heraus, bin noch immer völlig durcheinander. Ich glaube Amina sieht das, daher legt sie ihre Arme auf meine Schultern und verschränkt sie dann in meinem Nacken. Meine Arme legen sich automatisch auf ihren Rücken und ziehen sie näher.
"Wie...Was...Warum....", nuschele ich. Etwas sinnvolleres bekomme ich gerade nicht zustande.

"Jannis hat's mir erzählt.", flüstert sie. Ich schlucke. "Nächstes Jahr, fragst du mich einfach, okay?", flüstert sie weiter. Ich nicke vorsichtig. "Danke, Mina. Du hast keine Ahnung, wieviel mir das bedeutet.", sage ich vorsichtig mit belegter Stimme. "Glaub mir, das habe ich. Erinnere dich mal an meinen Geburtstag.", sagt sie mitfühlend. Die Erinnerung, daran, wie sie mich vor Freude beinah umgeworfen hat, lässt mich lächeln.

Amina lockert ihre verschränkten Armen erst, als ich es tue. So langsam wird mir nämlich wieder bewusst, wo wir uns hier befinden. Im Kreise meiner Familie. Ich glaube schon, dass wir uns als Familie ziemlich nahe sind, aber wahrscheinlich haben sie mich so auch noch nie erlebt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch ich mich so noch nicht erlebt habe. Vielleicht, weil die Emotion neu ist. So richtig verstehe ich die Emotion auch noch nicht, aber wenn ich ihr einen Namen geben müsste, dann wäre es wohl  'Amina'.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt