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Amina ~

Ich sitze einfach da, meinen Kopf an Julians Schlüsselbein gelehnt und meine Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Das einzige, was mich gerade noch zusammenhält, sind Julians starke Arme.

So ist das, wenn man versucht, Emotionen über Jahre hinweg zu verdrängen und sie dann plötzlich an die Oberfläche kommen. Julian ist erst der zweite Mensch, dem ich das erzählt habe. Auch wenn es nicht geplant war, ihm davon zu erzählen, fühle ich mich etwas leichter.

Langsam löse ich mich von Julian und wische meine Tränen mit dem Ärmel aus meinem Gesicht. Jetzt, wo mein emotionaler Ausnahmezustand sich gelegt hat, fühle ich mich etwas unwohl. Nackt. Für mich ist es eine große Offenbarung gewesen.

Ich traue mich nicht in sein Gesicht zu sehen, weil ich nicht weiß, was er denkt.
"Es tut mir total leid, dass du das durchmachen musstest...Das ist echt heftig. Ich weiß gerade gar nicht, was ich sagen soll. Ich würde dir gerne sagen, dass das vorbei geht, aber ich fürchte so einfach ist das nicht.", selbst ohne Julian anzusehen, höre ich die Betroffenheit in seiner Stimme.
"Danke, fürs Zuhören und einfach alles." Mehr kann ich gerade nicht sagen.

"Darf ich dich was fragen?", sagt Julian vorsichtig. Ich nicke.
"Sicher? Es ist voll in Ordnung, wenn du nicht weiter darüber reden möchtest. Ehrlich, ich verstehe das total."
Seine Empathie berührt mich. Ich bin es nicht gewohnt, dass ein Mann so viel Rücksicht auf meine Gefühle nimmt. Ich schaue ihm in die Augen, als ich sage: "Du kannst mich alles fragen. Ich vertrau dir."

"Ist das für dich unangenehm, wenn ich dich ... umarme...? So zur Begrüßung oder vorhin...", fragt er beinahe flüsternd.
Im ersten Moment bin ich irritiert. Für mich ist die Antwort so eindeutig, dass ich mir die Frage niemals gestellt hätte. Dann erst begreife ich, wie er darauf kommt.
"Gott, nein. Ehrlich, auf gar keinen Fall ist mir das unangenehm. Es hat mir vorhin so sehr geholfen, einfach zu spüren, dass ich nicht allein bin." Ich sehe, wie er sich etwas entspannt.

"Das Letzte, was ich will, ist dir irgendwie zu Nahe zu treten. Dich irgendwie zu verletzen. Also, sollte es dir doch mal unangenehm oder zu viel sein, dann sag es mir bitte." Es bedeutet mir unheimlich viel, dass er sich diese Gedanken macht.

"Ich glaube, durch diese extreme Erfahrung mit Paul, dem ich ja irgendwie nur als willenloser Körper etwas wert war, hab ich, was das angeht, einen ziemlichen Knacks weg. In der Beziehung danach war das Körperliche auch ein riesiges Thema und obwohl mein damaliger Freund ganz anders war, hat das bei mir wieder etwas getriggert. Ich hatte wieder das Gefühl, dass mein Körper mehr Bedeutung in der Beziehung hatte, als meine Seele."

Zunächst sagt Julian darauf nichts, es wirkt, als wäre er in Gedanken. Doch dann bricht er sein Schweigen: "Ich kenne das Gefühl." Er schluckt und fährt sich nervös durch die Haare. Ich schaue ihn überrascht an. "Also nicht direkt, aber ich glaube das Gefühl ist das gleiche.

Ich war total verknallt in Lu und ich war mir sicher, dass sie mich als Mensch mag. Ich fand das gut, dass sie selbst schon in der Öffentlichkeit stand, weil ich dadurch dachte, dass sie mich ja nicht braucht, um irgendwie berühmt zu werden oder was weiß ich, weil sie sich schon selbst einen Namen gemacht hat. Ich war mir sicher, dass es ihr nicht um Aufmerksamkeit geht.

Jannis hat schon ziemlich früh gesagt, dass er das Gefühl hat, sie spielt bloß eine Rolle. Ich hab das für Blödsinn gehalten und hatte riesigen Zoff mit ihm deswegen. Ich dachte, vielleicht ist er einfach neidisch oder so.

Wir haben uns nicht oft gesehen. Also Lu und ich. Allgemein haben wir nicht besonders viel Kontakt gehabt. Wenn wir uns dann doch getroffen haben, dann wollte sie immer in irgendwelche schicken Restaurants oder andere Locations. Sie war ständig damit beschäftigt Fotos zu posten. Ich hab lange gedacht, naja gut, das gehört halt irgendwie zu ihrem Beruf. Bis ich irgendwann begriffen habe, dass es nicht um mich geht.

Lu hat entschieden, unsere Beziehung überhaupt erst öffentlich zu machen. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir es nicht gemacht. Wenn wir irgendwo zusammen waren, wollte sie immer ein Foto von uns posten. Hat immer gesagt, dass sie 'einfach ihr Glück teilen will'.

Ihre Followerzahlen sind seit der Bekanntgabe unserer Beziehungen natürlich extrem gestiegen. Irgendwann hat sie mich dann scheinbar nicht mehr gebraucht. Am Ende haben wir vielleicht einmal die Woche für 15 Minuten gefacetimed. Ich hab ich mich dann auch verschlossen, als ich das so langsam gerafft habe.

Wie ein Idiot habe ich mich gefühlt. Ich habe mich auf meinen Status, den ich mir nicht ausgesucht habe und der überhaupt nichts mit mir zu tun hat, reduziert gefühlt.

Seitdem habe ich Angst davor, neue Menschen in mein Leben zu lassen, weil ich nie weiß ob sie mich wirklich als Menschen mögen. Das betrifft Männer wie Frauen. Bekanntschaft, Freundschaft, was auch immer.

Dating ist aber das allerschlimmste. Es ist selten, dass ich jemanden kennengelernt habe, der nicht wusste, wer ich bin. Irgendwann kommt es ja sowieso zur Sprache. Ich will auch nicht lügen und der Fussball ist ein großer Teil von mir. Aber das ist eben nicht alles. Ich bin nicht nur Fußballer. Auf den Dates oder beim Chatten ging es jedoch immer darum. Ich wollte dann auch nichts allzu Persönliches mehr von mir erzählen, weil ich Angst hatte, dass das irgendwo in den Medien landet. Deswegen habe ich zugegebenermaßen echt lange überlegt, ob ich dir zurückschreibe, als du meintest, du hättest mich erkannt..."

Er hat recht. Es ist das gleiche Gefühl. Ich muss schlucken. Ehe ich wieder sprechen kann, muss ich mich räuspern.

"Denkst du manchmal, dass ich mit dir nur befreundet bin, weil du Fußballprofi bist?"
Er schaut mir erst in die Augen. Ich meine darin, Schmerz zu erkennen. Dann schaut er auf den Boden und fährt sich nervös durch seine Haare.

Ich schlucke. Ich weiß, was er sagen wird. Das schmerzt, aber ich muss es von ihm hören.

"Du kannst ruhig ehrlich sein, ich komme damit klar." Er holt tief Luft.
"Ich glaube schon, dass du mich als Mensch magst, aber ich habe Angst davor, mich zu täuschen. Wie bei Lu."

Ich verstehe ihn. Schließlich ist es im Grunde die gleiche Angst, die ich auch habe: Auf etwas reduziert zu werden. Nicht als ganze Persönlichkeit gesehen zu werden. Eine Angst, die tief sitzt, weil sie so fundamental greift. Möchte nicht jeder, mit all seinen Stärken und all seinen Schwächen, mit allem, was ihn unterscheidet, akzeptiert und geliebt werden? Verdient es nicht jeder?

"Ich wünschte, ich könnte dir die Angst einfach nehmen. Ich glaube aber, dass nichts, was ich dir sagen könnte, das ändert. Das einzige, was ich vielleicht tun kann, ist dir zu sagen, wie ich dich sehe. Als du damals aus dem ICE gestiegen bist, bevor ich realisiert habe, wer du bist, waren meine einzigen Gedanken: Boah, ist er angenehm und Fuck, ich hab weder seinen Namen noch seine Nummer. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, ob ich lieber in den Signal Iduna Park gehen würde, um dich und den BVB gegen den FC Bayern zu sehen oder, ob ich lieber mit dir shoppen gehen würde, dann müsste ich nicht eine Sekunde überlegen. Ich würde mit dir shoppen gehen, ohne wenn und aber. Glaube mir, den Vorzug haben nicht viele Menschen in meinem Leben." Dabei muss ich schmunzeln.

Ich schaue in Julians grinsendes Gesicht. Er stützt seinen Ellenbogen auf die Knie und fährt mit seiner Hand über sein Gesicht. "Ehrlich? Du würdest einfach mit mir shoppen gehen, obwohl du es hasst?", seine Ungläubigkeit ist niedlich. Ich grinse zurück: "Jaaa".

"Gott, du musst mich ja wirklich mögen."

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Hallo ihr Lieben,

puuh, das waren ein paar wirklich emotionale und intensive Kapitel sowohl für Amina und Julian als auch für mich. 
Ich möchte mich an dieser Stelle bei euch bedanken. Für jeden Read, jeden Vote und jeden Kommentar, den ihr der Geschichte bis hierher geschenkt habt. Die Geschichte kommt von Herzen und es freut mich unheimlich, wenn sie auch euch ans Herz wächst.

Schreibt gerne eure Meinung, Ideen oder Anregungen in die Kommentare oder hinterlasst mir eine Nachricht. Darüber freue ich mich sehr.

Zu guter letzt, möchte ich einfach sagen, dass ich mich über jeden Einzelnen, der Amina und Julian weiter auf ihrem Weg begleitet, unheimlich freue.

Ich danke euch von ganzem Herzen.

Eure Bodymindsoul

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt