Prolog

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Amina ~

Der Bahnsteig ist überfüllt mit Menschen. Ein Hoch auf die Verkehrswende. Ich seufze und spreche mir selbst Beileid aus.
Wie ich das hier hasse.
Volle Bahnhöfe.
Volle Züge.
Ich hasse Menschen nicht.
Wirklich nicht.
Ich hasse bloß viele Menschen an einem Fleck. Wenn ich das Gefühl habe, nicht mehr atmen zu können, weil mich die Anwesenheit der Menschen, um mich herum erdrückt.
Es ist mir einfach zu viel. Zu viel von allem.
In Zügen ist es besonders viel von 'zu viel'. Einfach, weil man nicht fliehen kann. Man muss durch. Stundenlang.
Der Gedanke an all die Gerüche hunderter Menschen auf engstem Raum, die Geräusche, die dicke Luft, lassen mich erschauern.
Ich habe nicht wirklich Angst davor. Ich fühle mich bloß einfach unwohl.
Es belastet mich.
Zu viel. Zu viel. Zu viel.

Im Stadtverkehr entscheide ich mich häufig einfach zu laufen, wenn mir die Bahn zu voll ist. Doch das stellt gerade keine Alternative dar. Schließlich warte ich auf einen ICE und da liegen zwischen den einzelnen Bahnhöfen nicht nur ein paar hundert Meter. Da sind es schnell mal hunderte Kilometer. Und die läuft man nicht mal eben so. Schon gar nicht mit einem Koffer.

Ich muss also einsehen, dass ich es einfach ertragen muss. Hineinsteigern bringt nichts. Positiv Denken ist angesagt.
Vielleicht bekomme ich ja sogar einen Sitzplatz. Betonung liegt auf vielleicht.

Ich hätte natürlich aus dem 'vielleicht' auch ein 'definitiv' machen können, indem ich mir einen Sitzplatz reserviert hätte. Nur bin ich vor allem eins: ziemlich geizig. Bei sowas zeige ich dem Kapitalismus den bösen Finger. Die Tickets sind ja ohnehin schon unglaublich teuer.

Ich tue also das einzige, was ich tun kann: Ich atme tief durch und konzentriere mich auf das Wesentliche.

Endlich Semesterferien. Endlich Urlaub mit meiner besten Freundin, Flo. Voller Vorfreude ist mein Koffer schon seit zwei Wochen  gepackt. Flo hat schon seit einer Woche Urlaub und ist bereits in dem gemütlichen Bungalow an der Ostsee, den wir uns für anderthalb Wochen gemietet haben. Und genau dorthin bin ich gerade unterwegs.
Die Gedanken an den Strand, lange Abende mit schönen Gesprächen und viel Sonne heitern mich ungemein auf.

"Achtung auf Gleis eins. ICE 1758 nach Hamburg Altona, planmäßige Abfahrt 14:35, Vorsicht bei der Einfahrt." Die  mechanische Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln. Endlich kommt der Zug.
Ich durchforste mit meinen Augen den langsamer werdenden Zug nach freien Sitzplätzen, jedoch ohne Erfolg. Er ist das, was ich befürchtet habe, nämlich voll.

Als der Zug hält, steigen etliche Menschen aus, was mich wieder auf einen Sitzplatz hoffen lässt. So hieve ich meinen Koffer hoffnungsvoll gehetzt in den Zug und beginne mit Alderaugen die Sitzplätze zu durchleuchten.

Den ersten freien Sitzplatz, den ich so hoffnungsvoll gehetzt ansteuere, ist reserviert, wie mir die kleine Anzeige an der Lehne verrät. Auch das noch.
Also quetsche ich mich weiter durch den Gang.

Und siehe da.
Positiv Denken zahlt sich aus.

Tatsächlich finde ich zwei freie Sitzplätze, die nicht reserviert sind. Okay, auf dem Platz am Fenster liegt ein Rucksack, aber ich brauche ja auch nur einen Platz.
Meine Anspannung fällt ab und ich lasse mich in den Sitz sinken.
Endlich kann es losgehen.




Julian ~

Als der Zug sich immer weiter mit Menschen füllt, verfluche ich mein Auto.
Mein Auto, mich selbst und eigentlich auch alle Menschen, die in diesen Zug einsteigen.

Mein Auto wird verflucht, weil es ausgerechnet heute den Geist aufgegeben hat. Ausgerechnet dieses Wochenende, an dem ich nach Bremen zum Geburtstag meiner Mutter fahren muss.
Ich freue mich natürlich meine Familie zu sehen, aber wäre der Geburtstag nicht gewesen, dann hätte ich den Familienbesuch ganz sicher einfach verschoben und wäre ganz entspannt mit dem reparierten Auto gekommen.
Geburtstag ist aber eben Geburtstag und irgendwie schulde ich es meiner Mutter auch ein bisschen. Sie würde das nie so sehen. Aber ich bin ihr einfach ziemlich dankbar, für alles. Sie war immer für mich da. Hat mich immer unterstützt. Hat immer an mich geglaubt, gerade, wenn ich es nicht getan habe.

So sitze ich nun aus Liebe zu meiner Mutter in einem vollen ICE.

Ich habe es unterschätzt.
So einfach ist das.
Und dafür verfluche ich mich selbst.
Ich habe gedacht, wenn ich in der ersten Klasse zwei Sitzplätze buche, würde ich schon meine Ruhe haben.
Was ich nicht bedacht habe, ist, dass die erste Klasse kurzfristig heute wegen Überfüllung des Zuges aufgelöst werden muss.
Wer rechnet denn bitte auch mit sowas?

Ich will mit niemanden sprechen.
Keine Autogramme geben müssen oder für Fotos freundlich lächelnd posieren müssen.
Ich will einfach meine gottverdammte Ruhe.

Also gebe ich mein bestes nicht aufzufallen.
Denn wenn ich nicht auffalle, werde ich auch nicht erkannt. Dann habe ich meine Ruhe. Ich dachte, ich könnte die Wahrscheinlichkeit von Ruhe erhöhen, in dem ich vorsorglich zwei Sitzplätze reserviere, um auszuschließen, dass jemand direkt neben mir sitzt.

Das entpuppt sich nun als Fehler.

Ich habe dabei nämlich nicht bedacht, dass ständig Leute fragen, ob der Sitzplatz wirklich besetzt sei. Klar, an der Anzeige steht reserviert von Dortmund nach Bremen. Wie soll man den Leuten erklären, dass man als einzelne Person zwei Sitzplätze braucht?

Es ist ein Anfängerfehler. Das wird mir nun klar. Es wäre deutlich unauffälliger gewesen, wenn ich, wie ein ganz normaler Mensch nur einen Sitzplatz reserviert hätte und mich die ganze Fahrt über schlafend gestellt hätte.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt