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Julian ~

Seit fünf Minuten starre ich bereits auf das Ziffernblatt meiner Uhr am Handgelenk.
Zähle die Minuten herunter, die nur quälend langsam vergehen. So quälend langsam, dass ich nervös von einem Fuß auf den anderen trete, während ich an einem umgedrehten Ruderboot lehne.
Nala sitzt geduldig neben mir.
Die Ruhe in Person.
Mich hingegen zerreißt das Warten förmlich.
Es ist schlimmer, als bei einem Spiel auf der Bank zu sitzen und nicht helfen zu können, während dein Team gerade im Rückstand ist. Das hier ist so viel schlimmer, weil ich keine Ahnung habe, ob wir im Rückstand liegen.
Ich weiß nicht einmal, ob das Spiel noch läuft, oder ich in einem leeren Stadion sitze und vergeblich auf meinen Einsatz warte.

18:59:50

Ich bin so verzweifelt, dass ich anfange die Sekunden in meinem Kopf zu zählen. 

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19:00:00

Endlich.
Ich blicke mich um.
Am Strand sind nur noch vereinzelte Menschen zu sehen.
Eine Familie mit zwei Kindern spielt im Sand.
Zwei Frauen gehen unten am Wasser barfuß spazieren.
Ein Mann sammelt Muscheln.
Von Amina keine Spur.

Ich atme betreten aus.
Keine Ahnung, was ich erwartet habe.
Wahrscheinlich habe ich gehofft, dass sie Punkt 19:00 Uhr einfach vor mir auftaucht.
Dass sie, wie in einem Videospiel einfach gespawnt wird.
Stattdessen das Gegenteil.
Wie vom Erdboden verschluckt.

Ich wusste, dass es sein kann, sie kommt nicht.
Ich wusste es.
Und doch trifft es mich so unvorbereitet. Weil da die Hoffnung war.
Die klitzekleine Hoffnung, die nun langsam stirbt.
Amina ist die Pünktlichkeit in Person.
Sie ist eher eine Viertelstunde zu früh, als eine Minute zu spät.
Und jetzt ist es schon 19:10 Uhr.

Ich starre auf meine weißen Sneaker, die im trockenen Sand versinken und versuche einen klaren Gedanken zu fassen.
Was nun?
Was zur Hölle mache ich jetzt?

Plötzlich vernehme ich aus dem Augenwinkel, wie sich Nala neben mir regt.
Wie sie sich anspannt und die Ohren spitzt.
Wie sie ganz zappelig wird und aufgeregt fiept.
Wie sie schwanzwedelnd davon jagt.
Mein Herz setzt aus.

Blitzschnell suchen meine Augen den Strand in der Richtung ab, in die Nala sprintet.
Tatsächlich.
Eine einzelne Frau bewegt sich zügig in meine Richtung.
Bleibt kurz stehen und geht in die Knie, um Nala zu begrüßen.
Krault sie.
Erhebt sich dann wieder und die beiden bahnen sich gemeinsam ihren Weg weiter in meine Richtung.

Zögerlich gehe ich ihnen ein paar Schritte entgegen.
Bleibe dann aber unsicher wieder stehen.
Diese gottverdammte Nervosität.
Sie war nie da.
Doch jetzt ist sie so verdammt stark, dass meine Hände anfangen zu zittern. Sie ist so stark, weil ich mich so schwach fühle.
Weil ich keine Ahnung habe, wie ich mit ihr umgehen soll.
Weil ich nicht weiß, was noch okay ist.
Ich vergrabe meine Hände sicherheitshalber in den Hosentaschen, um das Zittern zu verbergen.

Dann stehen wir voreinander.
Amina und ich.
Zwischen uns zwei Meter.
Zwei verdammt lange Meter.
Der normale Abstand zwischen zwei fremden Menschen beträgt in etwa einen Meter. Das ist der Sicherheitsabstand, bei dem man sich in Gesprächen unter Fremden noch wohl fühlt.
Bei uns sind es zwei.
Dabei sind wir eigentlich alles andere als fremd. Erst gestern lag meine Hand auf ihrem Brustkorb.
Und trotzdem sind es heute zwei Meter.
Es tut so verdammt weh.

"Hi. Sorry, dass ich zu spät bin. Musste nochmal zurück...Taschentücher holen.", begrüßt Amina mich zögerlich. Ihre Hände hat sie vor dem Körper ineinander verknotet, als würde sie sich dadurch selbst Kraft geben wollen.
"Alles gut. Danke, dass du überhaupt gekommen bist.", murmele ich und kratze mir unsicher am Hinterkopf.
Sie legt den Kopf schief.
"Du hast gesagt, ich soll es nicht für dich tun...Ich bin hier, weil ich viele Fragen und viel zu wenig Antworten habe...Also brauchst du dich wohl eher nicht zu bedanken.", erwidert sie. Dabei schaut sie auf ihre verknoten Hände. Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll.
Also nicke ich bloß und sage nichts. Scharre lediglich unruhig, wie ein Pferd mit meinem linken Fuß im Sand.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt