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Jannis ~

Ich blicke entsetzt zu meinem Bruder, beziehungsweise zu dem, was von ihm noch übrig ist. Zusammengesackt sitzt er auf dem Sofa und weint.
Wenn Julian weint, dann ist es schlimm. Ganz elend schlimm.
So wie jetzt.
Noch nie habe ich einen Menschen mehr leiden gesehen, als meinen Bruder in diesem Moment.

"Jannis, sag bitte was. Ich mach mir Sorgen."
Beim Klang von Aminas Stimme reiße ich mich endlich von Julians Anblick los.
"Ähh, Sorry...ich wollte dich gar nicht anrufen. Muss ausversehen passiert sein. Ich melde mich später bei dir, okay?", sage ich abgehackt.
"Oh, achso. Okay, dann bis später.", murmelt Amina.
"Bis dann", sage ich und lege auf.

Unverändert sitzt Julian auf dem Sofa.
Es macht mir Angst.
Amina hatte recht.
Es geht ihm verdammt schlecht.

Ich setze mich neben ihn auf das Sofa.
Noch immer rührt er sich nicht.
Kauert dort weiter und weint stumm.
Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. Will ihm zeigen, dass ich da bin.
Noch immer rührt er sich nicht.
"Juli, schau mich an.", fordere ich ihn auf.
Will ihn irgendwie da heraus bekommen.
Noch immer rührt er sich nicht.

Ich nehme seine Arme und versuche ihn zu mir zu ziehen, doch er wehrt sich.
Will das alleine durchstehen, wie immer. Dieser verdammte Sturkopf.
Ich ziehe energischer an seinen Armen.

Dann gibt er endlich auf.
Lässt seinen Kopf an meine Schulter senken.
Hält sich an mir fest.
Ich mich an ihm.
Weil ich keine Ahnung habe, was ich sonst tun soll.

Nach zwanzig Minuten hebt Julian dann das erste Mal den Kopf. Seine Augen sind gerötet. Wen wundert es. Er wischt sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Lehnt sich erschöpft an die Lehne des Sofas an und legt seinen Kopf in den Nacken. Starrt an die weiße Decke über ihm.

"Ich versuche es jetzt einfach nochmal... Also... warum schreibt mir Amina, dass sie sich große Sorgen um dich macht und bittet mich darum nach dir zu sehen? Und warum betont sie, dass ich mich auf gar keinen Fall abwimmeln lassen darf?", frage ich ihn vorsichtig.
Julian schaut mich mit großen Augen an.  "Sie hat dir geschrieben?", fragt er mich verblüfft, vielleicht auch erschrocken.

"Ja, Mann. Sie sagt du ignorierst sie oder reagierst angepisst. Dass du wohl gerade wieder um dich trittst, weil dir alles zu viel ist. Sie glaubt es liegt am Fußball ... Das glaube ich jetzt nicht mehr. Ich glaube, darin irrt sie sich gewaltig ... Es liegt nämlich an ihr, oder?", frage ich weiter. Mache mich auf einen Angriff oder einen Zusammenbruch bereit.

Julian nickt vorsichtig. Tränen treten ihm wieder in die Augen. "Hat sie was gesagt oder gemacht?", frage ich. Mein Bruder schaut mich irgendwie schockiert an. "Nein, du Idiot. Sie hat nichts gesagt. Hat nichts gemacht. Sie ist toll. Absolut perfekt. Das ist das Problem.", sagt er aufgebracht.
"Ist das Sarkasmus?", frage ich verwirrt.

Julian schaut mich an, als wäre ich behindert. "Dafür, dass du mir damit seit einem Jahr auf den Sack gehst, bist du jetzt unfassbar langsam.", erwidert er. Und dann erst begreife ich das Offensichtliche. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen. "Du hast dich also doch in sie verliebt.", sage ich leise. Eher zu mir selbst, als zu ihm.

Mein Bruder fängt an zu lachen. Sarkastisch.
Ironisch.
Zynisch.
Es ist das Lachen eines Verzweifelten.

"Oh, ich wünschte, ich hätte mich bloß 'verliebt'. Aber nein, Jannis, ich liebe sie. Voll und ganz. Wie ein kopfloser Idiot." Er klingt aufgebracht. Wahrscheinlich, weil Wut die Verzweiflung kaschiert.

Ich schlucke. Die Art, wie er einen Unterschied zwischen verlieben und lieben macht, lässt erahnen, wie tief seine Gefühle reichen. "Juli, niemand ist ein Idiot, weil er Gefühle hat.", sage ich vorsichtig. Er schaut mich ungläubig an. "Doch, Jannis. Wenn sie nur Freundschaft will, dann ist man ein Idiot." Julian schlägt frustriert auf ein unschuldiges Sofakissen ein.

Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Es ergibt für mich keinen Sinn.
"Wie ich dich kenne hast du es ihr doch sicher nicht gesagt. Wie kannst du dir so sicher sein?", frage ich skeptisch.
"Natürlich habe ich es ihr nicht gesagt. Es ist auch so schon deutlich genug. Sie flüchtet, wenn es körperlich nah wird. Körperliche Nähe triggert sie. Meine Nähe. Sie hat mich auf das Scheiß-Foto angesprochen und das einzige, worum es ihr ging, war, dass ich es ihr nicht vorher erzählt habe. Weil man das so macht. Unter Freunden. Ich kann das einfach nicht mehr. Ich kann nicht mit ihr reden, als wären wir befreundet. Ich kann nicht in ihrer Nähe sein, als würde ich nichts spüren.
Ich kann, verdammt nochmal nicht so tun, als würde ich sie nicht lieben.", den letzten Satz bringt Julian nur geflüstert über seine Lippen.

Nachdenklich blicke ich zu Boden.
Hiermit habe ich nicht gerechnet.
Mein Bruder, zerfressen von Liebeskummer.
"Ich weiß nicht, Mann. Du gehst sie an. Ignorierst sie. Fragst sie nicht, wie es ihr geht. Du verletzt sie. Und zwar gewaltig. Niemand würde es ihr verdenken, wenn sie dich zur Hölle schickt. Dich genauso behandelt, wie du sie. Dich blockiert. Du hättest es absolut verdient. Das weißt du selbst. Stattdessen schreibt sie mir und bittet mich, für dich da zu sein. Weil sie hinter der Mauer und den Scharfschützen, die du ihr entgegen stellst, sieht, dass es dir beschissen geht. Das ist absolut selbstlos. Wenn das nicht Liebe ist, was dann?", frage ich ihn.

Mein Bruder schüttelt resigniert den Kopf. "So ist Amina halt. Sie würde das für jeden tun, bei dem sie das sieht. Weil sie einfach nicht anders kann. Sie hilft anderen, auch wenn es ihr nicht gut tut. So wie gerade. Solange ich in ihrem Leben bin, werde ich ihr weh tun. Nur weil ich damit nicht klarkomme. Das kann ich ihr nicht weiter antun. Also muss ich aus ihrem Leben verschwinden." Julians Stimme klingt mechanisch. Als wäre all die Emotion daraus verschwunden. Wahrscheinlich der einzige Weg nicht daran zu zerbrechen.

Das ist ja aber auch keine Lösung. "Wie soll das denn deiner Meinung nach jetzt weiter gehen, hm? Du glaubst doch nicht, dass es dir morgen besser geht, wenn du den Kontakt abbrichst.", sage ich besorgt.
"Wird sich wohl zeigen. Muss mich halt ablenken.", antwortet Julian genervt. Zieht sich wieder zurück in sein Schneckenhaus und nagelt die Tür zu.

"Was ist denn, wenn ich mal mit ihr rede und versuche herauszufinden, ob da wirklich nichts ist?", frage ich zögerlich. Kann das einfach nicht akzeptieren. Entsetzt schaut er mich an. "NEIN!!!", schreit er mich an. Erschrocken zucke ich zurück. "Wag es ja nicht!", drohend hebt er den Finger.
Auch das habe ich bei Julian noch nie erlebt. Er ist keiner, der herumschreit und droht.
Es macht mir ein bisschen Angst. Ich glaube er merkt das, denn nun sieht auch er erschrocken aus. Erschrocken über sich selbst. "Jannis, bitte. Ich weiß, dass du Amina magst, aber du bist mein Bruder. Ich muss wissen, dass du auf meiner Seite stehst...und nicht auf ihrer. Ich brauche meinen Bruder.", sagt er verzweifelt.

Ich schlucke.
Welche Wahl hat man schon, wenn der eigene Bruder mit seinem gebrochen Herz in der Hand vor einem steht und einen anfleht?
Keine.
Ich nicke und lege ihm die Hand auf die Schulter.

"Danke", flüstert er.
"Klar", erwidere ich. "Aber schreib ihr. Du musst ihr das nicht erklären, aber sie verdient zumindest zu wissen, dass das das Ende ist." Meine eigenen Worte tun mir weh, während ich sie ausspreche.

Es fühlt sich so falsch an.
Denn irgendwie tun beide doch das gleiche.
Beide wollen, den jeweils anderen schützen.
Beide wollen, dass es dem jeweils anderen gut geht.
Beide sind bereit, den jeweils anderen dafür zu verlieren.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt