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Ein paar Monate später

Julian ~

"Für einen Tag?" Stirnrunzelnd sitzt Amina neben mir auf einer Holzbank irgendwo im Wald, während Nala zu unseren Füßen ihre Nase in feuchte Erde drückt. Zum wiederholten Mal, wiederholt Amina einen Teil meines Satzes zuvor. Der, in dem ich ihr mitgeteilt habe, dass ich an meinem morgigen, trainingsfreien Tag spontan nach Hamburg fahre.
"Du?", fragt sie schon wieder. Diesmal mit gerümpfter Nase, als wäre es ihre Nase, die im feuchten Dreck wühlt. Und doch weiß ich, was sie meint. Ich bin eben ich und damit niemand, der seinen wertvollen Tag auf der Autobahn vergeudet. Normalerweise jedenfalls nicht.

"Ja, und ja." Die Vögel zwitschern aufgeregt durcheinander.

"Warum?" Amina ist skeptisch und ich verüble es ihr nicht. "Jannis hat gefragt." Das ist eine Lüge. Ich war derjenige, der gefragt hat. Wobei das auch eine Lüge ist, weil da nie eine Frage war. Da war bloß eine dringende Aufforderung gepaart mit flehender Verzweiflung. Jedenfalls hatte Jannis keine Wahl. Aminas skeptischer Blick bohrt sich in mein Gesicht. "Es klang irgendwie dringend", schiebe ich hinterher, weil es Amina ist.

Amina mit ihrer starken Schwäche fürs Helfen.
"Geht es ihm nicht gut?" Volltreffer.
"Weiß ich nicht, aber er wollte zumindest nicht am Telefon reden." Lüge stapelt sich über Lüge.
Ich weiß, ich weiß, ich weiß.
Man lügt nicht.
Schon gar nicht gegenüber seiner Freundin und erst recht nicht, wenn es sie betrifft.
Nur kann ich ihr die Wahrheit noch viel weniger sagen.

Als ich nach vier unendlichen Stunden Autofahrt am nächsten Tag irgendwann um die Mittagszeit über die Elbbrücke fahre, weiß ich, warum ich für sowas eigentlich nicht zu begeistern bin. Hochgradig unentspannt suche ich am Straßenrand eine freie Parklücke, was zu meiner Entspannung natürlich nicht beiträgt. Erst nach fünfzehn Minuten ist das Wunder vollbracht. Erleichtert atme ich aus, was aber nur kurzzeitig seine gewünschte Wirkung erzielt, weil mir wieder bewusst wird, weshalb ich dieses Elend auf mich nehme.

Nach einer weiteren Viertelstunde zu Fuß mit dem Handy in der Hand, dessen Navigation mich erst einmal in die falsche Richtung schickt, bin ich da. Endlich. Zwar noch immer unentspannt und zunehmend überfordert, aber ich bin da. Und Dabei-Sein ist bekanntlich alles. Wobei das in meinem Fall mit absoluter Sicherheit Vollschrott ist. Ich visiere das Backsteingebäude auf der gegenüberliegenden Seite an, das bis auf die beiden großen Schaufenster relativ unscheinbar scheint. Zu meiner großen Überraschung steht dort bereits jemand und beäugt den Inhalt des Fensters.
Der Lieblingsnervtöter.
Einmal in seinem Leben ist er pünktlich.
Und dieses eine Mal ist heute.
Mir wird flau im Magen.

"Was für eine Ehre", grinse ich und schicke das Flaue in meinem Magen auf eine der Fähren am Elbufer. Ich ziehe Jannis' Mütze, die eigentlich mal meine war, bis über seine Augen. "Boah, fünf Sekunden und ich bereue es schon wieder", mault mein Brüderchen. Er richtet meine Mütze auf seinem Kopf, wobei das spiegelnde Schaufenster als Spiegel dient. "Jaja, ich kaufe dir eine Kette als Entschädigung." Mit dem Kopf nicke ich in Richtung Schaufenster. Dort wo alles ein bisschen glänzt und strahlt. Jannis verschränkt die Arme vor der Brust. "Weißt du, warum ich pünktlich bin?", fragt er, ohne eine Antwort von mir zu wollen. "Weil du sonst gestorben wärst." Ich verzieh mein Gesicht. Keine Ahnung, warum. Oder doch. Weil er recht hat. "Wäre ich nicht." Wäre ich wohl. Jannis lacht. Es klingt stark nach 'wer's glaubt' und ein wenig belustigt. "Mach dir nichts draus, Juli. Dafür sind Trauzeugen doch da." Diesmal grinst er ehrlich und breit. Und immer noch belustigt. Ich übergehe alles.

"Lass es hinter uns bringen." Während ich mich zur Tür wende, haftet ein Auge an dem ausgestellten Schmuck, besonders an den Ringen, der andere an den verschnörkelten Buchstaben über der Eingangstür. Juwelier Wittmann, steht dort. "Sag das bloß nicht zu ihr." Die amüsierte Stimme meines Bruders in meinem Nacken nervt und ich frage mich, ob ich nicht derjenige sein sollte, der das bereut. Dann würde ich jedoch sterben und das hier wäre völlig für umsonst, was auch niemand will.
Vor allem ich nicht.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt