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Julian ~

Badehose
noch eine Badehose
mehrere Shorts 
etliche Shirts
drei kurzärmlige Hemden
Boxershorts
Socken
Ein Hoodie
ein Paar Sneaker
Badelatschen
Sonnebrille
Sonnenhut
Waschtasche

In Windeseile fliegt alles in meinen silberfarbenen Koffer.
Ich habe es eilig.
So verdammt eilig.
Nicht nur, weil mein Flieger in einigen Stunden geht, sondern einfach, weil ich es nicht abwarten kann, von hier wegzukommen.

Es klingt so furchtbar hässlich und das tut mir ehrlich leid.
Es tut mir leid für die Fans.
Es tut mir leid für den Club.
Es tut mir leid für das Team.
Es tut mir leid für mich selbst. 
Ich hab nicht das geben können, was ich so gerne gegeben hätte. Ich habe es versucht, wirklich versucht. Doch nun habe ich eingesehen, dass hier einfach nicht mein Platz ist. Das irgendwo hier vielleicht einfach meine Fähigkeiten enden.

Natürlich fühlt sich das wie ein Scheitern an. Schließlich habe ich einen Dreijahresvertrag nach nur einem Jahr aufgelöst. Im Grunde könnte das vielleicht sogar die Definition von Scheitern sein, wenn man das nüchtern betrachtet. Ich bin mir sicher, dass die allermeisten das genauso sehen. Das werfe ich niemandem vor, denn auch ich empfinde es noch immer als Scheitern.
Möglicherweise sogar das größte Scheitern meines Lebens.

Doch ist es wirklich ein Scheitern, wenn man erkennt, dass man nicht mehr kann? 

'Dein Bestes ist immer gut genug'

Das hat meine Mutter neulich zu mir am Telefon gesagt. Im ersten Moment musste ich ironisch darüber lachen. Ganz ehrlich, das klingt einfach wie irgendein schlauer Spruch aus einem nichtssagendem Tischkalender. Eben jener schlaue Spruch ist jedoch irgendwie kleben geblieben. In etwa so, wie ein Kaugummi unter dem Schuh.
Lästig.
Also musste ich wohl oder übel darüber nachdenken. Mir ist klar geworden, dass da schon irgendwie Wahrheit drin steckt.  Jeder gibt ständig sein Bestes und trotzdem erreichen wir nicht all die Dinge, die wir uns in den Kopf gesetzt haben, oder die wir theoretisch erreichen könnten.

In jedem Spiel gebe ich mein Bestes und  scheitere dennoch. Nicht nur ich. Jeder Spieler scheitert ständig. Das ist einfach so, denn der Fußball ist nun einmal ein Fehlerspiel.
Mal ein Pass, der unpräzise gespielt ist.
Mal ein Tackling, das unglücklich getimed ist.
Mal ein Schuss, der dem Torwart direkt in die Arme geht.
Mal eine Flanke, die über den Spann rutscht.
Es gibt keinen Spieler, der fehlerfrei spielt. Es gibt kein perfektes Spiel. 

Das betrifft jedoch nicht nur den Fußball. Niemand ist perfekt.
Niemand kann alles.
Ich bin schon immer an der Mathematik gescheitert. Ich raff es einfach nicht. Die Basics, okay. Aber alles was darauf folgt? Wenn zusätzlich zu den Zahlen plötzlich noch Buchstaben ganz wundersam auftauchen und man sie wieder verschwinden lassen soll?
Keine. Chance.
Scheitern.

Ich werde also wohl oder übel kein Einstein mehr in diesem Leben.
Auch eine Weltkarriere, wie die eines Lionel Messi oder eines Christiano Ronaldo wird es vermutlich eher nicht.
Unsere Fähigkeiten sind eben einfach limitiert.
Es wäre ja auch tragisch, wenn alle an der Spitze sein würden.
Wenn alle Abitur machen würden.
Wenn alle Menschen studieren würden. Wenn alle Menschen die höchste Managerposition innehätten.
Wenn alle Fußballer und Fußballerinnen in der ersten Bundesliga spielen würden. Dann gäbe es keine zweite Bundesliga. Dann gäbe es keinen HSV. Ach, wie tragisch.

Nein, mal im Ernst.

Die Gesellschaft, in der wir leben würde nicht mehr funktionieren. Sie würde zusammenbrechen.
Wie eine Fußballmannschaft, funktioniert auch eine Gesellschaft nur durch Diversität. Verschiedenheit.
Unterschiedlichkeit.
Vielfalt.
Jeder von uns hat eine Bedeutung.
Jeder von uns ist wichtig.
So wie er ist.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt