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Julian ~

Zeit ist relativ.
Das wusste schon Albert Einstein.
Nun weiß ich es auch.
Ich weiß es nicht nur, ich fühle es.

Es ist nämlich so: Die Zeit, in der Amina und ich nicht zusammen sind, vergeht so langsam, dass man meinen könnte, sie verginge gar nicht. Wie eine Sanduhr zum Zähneputzen, die man als Kind hatte. Ohne die Sanduhr, hätte ich damals wohl bloß Zahnpasta einmal von rechts nach links verteilt und den Rest einfach geschluckt, um mich schnellstmöglich wieder den wirklich wichtigen Dingen eines Kinderlebens zu widmen. Ich habe sie gehasst, diese Sanduhr mit dem schlumpfblauen Sand. Als wäre schlumpfblauer Sand weniger böse als weißer. Völliger Blödsinn. Gerade schlumpfblauer Sand ist die Pest, weil man ihn vor den weißen Fliesen besonders gut sehen kann. Jedes einzelne Sandkorn. In Zeitlupe ist jedes einzelne verdammte schlumpfblaue Sandkorn durch die gläserne Verengung gerutscht. Für eine ganze dreiminütige Ewigkeit.

Das Gegenteil zur Zahnputz-Sanduhren-Ewigkeit ist die Zeit, die wir zusammen verbringen.
Denn die rast.
Nicht autobahnmäßig auf der linken Spur ohne Tempolimit.
Nicht Formel Eins-mäßig.
Eher so überschallflugzeugmäßig.
Wenn man es so richtig wahrnimmt, ist es eigentlich auch schon wieder vorbei.
Es ist wie Sprints beim Training. Schon bevor das Kommando kommt, bist du ein angespanntes nervöses Wrack. Dann hörst du das Kommando und sprintest los, während die Stoppuhr gegen dich läuft. Du rennst, wie ein Wahnsinniger nur um am Ende festzustellen, dass dich die Zeit geschlagen hat.
Mal wieder.
Die Zeit ist dir weggerannt.
Egal, was du tust, die Zeit reicht nie aus.

Und so vergehen vierzehn Tage, in denen wir uns mit Videoanrufen und Nachrichten vertrösten, wie die Zahnputz-Sanduhren-Ewigkeit damals. Nämlich gar nicht.
Ich korrigiere: Fast gar nicht. Das einzig tröstliche an der Zeit ist nämlich, dass sie weder rückwärts läuft noch stehen bleibt. Sie vergeht.
Manchmal Zahnputz-Sanduhren-Langsam und manchmal Stoppuhren-Schnell.
Zeit ist eben relativ.

Gerade rutschen die letzten schlumpfblauen Sandkörner durch die Verengung der monströsen vierzehntägigen Sanduhr hindurch. Sie fallen auf den riesigen schlumpfblauen Sandberg, der sich dort bereits angesammelt hat. Er ist so riesig, dass man in Schlumpfblau bitterlich ertrinken könnte. Ich sag es ja: Schlumpfblau ist die Pest. Die letzten zwei Wochen habe ich mich verzweifelt gegen das Ertrinken gewährt.
Erfolgreich.
Denn nun ist die Zahnputz-Sanduhren-Ewigkeit am Ende. Keine Ahnung, ob ich mich schon mal so sehr gefreut habe auf den Parkplatz am Hauptbahnhof in Hannover zu rollen.
Das ist gelogen.
Ich weiß es: Noch nie.

Dabei ist mir Hannover an sich ziemlich egal. Im Grunde wollte ich nicht einmal hierher, schließlich will ich nach Bremen. Wer sich in Deutschland auskennt, der wird sich fragen, ob ich entweder blöd bin oder mich verfahren habe. Die Antwort lautet: Weder das eine noch das andere. Es ist tatsächlich nicht so, dass Hannover auf der Strecke zwischen Dortmund und Bremen liegt. Überhaupt nicht. Der Umweg über Hannover verlängert meine Fahrtzeit sogar um anderthalb Stunden. Und doch macht mich Hannover gerade sehr glücklich. Einfach, weil Aminas ICE hier in 15 Minuten ankommt. Die letzten verdammten schlumpfblauen Sandkörner meiner monströsen Sanduhr.

Jaaaaa.

Notdürftig vermumme ich mich mit Mütze und Schal, ehe ich die Autotür euphorisch hinter mir zu fallen lasse und in das Innere des Bahnhofs stürme. Ich nehme die vielen Menschen und die engen, langen Gänge des Bahnhofs gar nicht so richtig wahr. Ich fühle mich, wie ein Flummi. Mühelos hüpfe ich durch die Gänge die Treppen hinauf zum Bahnsteig, als könnte mich nichts stoppen.

Ohne Witz.

Heute bin ich Superman, Black Panther und Thor in einer Person nur noch besser.
Unverwundbar.
Unerschrocken.
Unfassbar stark.
Unglaublich schnell.
Ich bin mir sicher, heute könnte ich Rom einmal aufbauen und dann wieder komplett einreißen.
An einem Tag.
Nur mit meinen Händen.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt