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Julian ~

Als ich vom Training nach Hause komme, ist es ruhig. Zumindest fast ruhig. So ruhig wie die Begrüßung eines Hundes eben sein kann. Fiepend, schwanzwedelnd und hüpfend erscheint  Nala im Flur, als ich die Tür öffne. Ich hocke mich zu ihr und kraule sie hinter den Ohren. “Bald, Nala. Dann gehen wir raus”, erkläre ich ihr. Dass Nala diese Aussage nicht reicht, macht sie deutlich, indem sie sich einfach vor die Tür legt. Demonstrativ und ein bisschen erpresserisch mit Welpenblick. Woher sie das nur hat!?

Kopfschüttelnd lasse ich sie dort zurück und mache es mir stattdessen auf dem Sofa gemütlich. Eine Weile tippe ich mich durch diverse Instagram-Stories. Jannis bei einem Shooting. Marius in einem äußerst bunten Outfit. Kai und Sophia Arm in Arm vor dem Aachener Dom. Viel weiter komme ich nicht, weil mich erneutes Fiepen aus dem Flur ablenkt. Nalas Pfoten kratzen aufgeregt auf dem Parkettboden, als sich die Wohnungstür mit einem leichten Knarren öffnet. “Hi, Nala.” Eine leise Stimme dringt vom Flur bis zu mir auf das Sofa. “Naa, wie war’s?”, rufe ich und setze mich auf. An der Schwelle zum Wohnzimmer erscheint eine Gestalt mit seufzendem Gesicht und hängenden Schultern. Rucksack und Jacke fallen theatralisch mit einem dumpfen Knall zu Boden. Oookay. Weiße Sneaker werden kraftlos von den Hacken gestreift und purzeln über das Parkett. Für den Moment ein Stillleben voll regungsloser Verzweiflung. Bis das Stillleben die Stille verliert und Ordnung einkehrt. Die Jacke an den Haken. Die Schuhe ins Regal. Der Rucksack neben die Schuhe. Obwohl das Stillleben verschwindet, bleibt die Verzweiflung. Inzwischen ist sie von regungslos zu regungsvoll übergegangen. Die verzweifelte Gestalt schlurft zum Sofa und lässt sich über die Armlehne kippen. In etwa so, wie die Zukunft eines Baumes im Wald, der mit einem diagonalen Strich markiert ist. Er wird gefällt. Genauso fällt mir die verzweifelte Gestalt in die Arme. Um Himmels Willen. “So schlimm?” Ein Dutt nickt mir eifrig zu. Eifrig oder eben verzweifelt. “Wieso das denn?” Hängende Schultern zucken. “Die sind alle so professionell und haben total viel Erfahrung. Und dann komme ich und kann gar nichts. Ich weiß überhaupt nicht, was ich da soll. Warum ich überhaupt eingestellt worden bin.” Zu den hängenden Schultern gesellt sich eine erschöpfte Stimme. Ich greife nach den Schultern und drücke die verzweifelte Gestalt ein paar Zentimeter von mir weg, sodass ich sie sehen kann. “Amina, das war heute dein erster Arbeitstag. Meinst du nicht, du bist ein bisschen zu streng mit dir selbst?” Ein bisschen ist dabei die Untertreibung des Jahrhunderts. Amina zieht eine Schnute und legt die Stirn in Falten. “Vielleicht. Aber es fühlt sich so an. Das alles überfordert mich. Neue Stadt. Neue Arbeit. Neue Kollegen. Ich bin den ganzen Tag mit den Dingen konfrontiert, die ich nicht kann oder nicht weiß. Ich fühle mich dumm und inkompetent. Ich hasse das.” Das hier ist der Grund, warum ich Amina nicht fragen wollte, ob sie bei mir einziehen will. Das hier ist auch der Grund, warum sie die letzten Monate darüber nachdenken musste. Ich bin der Grund, warum sie trotzdem hier ist. “Glaub mir, ich weiß ziemlich genau, wie du dich fühlst. Das ist beschissen und wird vermutlich morgen auch nicht besser sein.” Entsetzt sieht Amina mich an. “Na großartig.” Mit ihren Händen gestikuliert sie wirr in der Luft. Wahrscheinlich Verzweiflung. “Aber diese Gedanken und Zweifel bringen dich nicht weiter”, versuche ich meinen Pep-Talk weiter. “Mag sein…” Ein unausgesprochenes Aber klemmt sich dahinter und krallt sich fest an ‘Mag sein’. “Dann könnten wir uns diese Gedanken und Zweifel doch auch für den Moment sparen, meinst du nicht?” Triumphierend lächle ich sie an. Widersprechen wäre genauso irrational wie die Gedanken und Zweifel selbst. Und wenn alles irrational scheint, dann klammert sich Amina gerne an die wenigen rationalen Fakten dieser Welt. “Mit wir meinst du eigentlich ich, nicht wahr? Ich kann es mir sparen?” Grinsend wackele ich mit den Augenbrauen. “Na schau, du bist eben doch nicht dumm.” Das bringt selbst Amina ein bisschen zum Schmunzeln, wenn auch nur zaghaft und etwas gequält. Theatralisch seufzend sinkt ihr Kopf an mein Brustbein. “Das ist aber nicht so einfach. Ich kann nicht einfach meinen Kopf ausschalten. So funktioniert das leider nicht.” Wieder seufzt Amina. Diesmal nicht theatralisch, aber noch immer dramatisch.
Für sie ist das alles echt. Ich wünschte, ich könnte ihr den Kopf waschen. All die Zweifel, all die erdrückenden Gefühl auswaschen, damit Amina wieder das viele andere sieht.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt