Julian ~
Der Juckreiz in meinem Nacken nimmt zu. Flecken der Größe einer Kirsche zieren meine blasse Haut. Hellrot und unförmig. Ein Gruß meines Körpers, frei nach dem Motto: "Hallo Julian, du hast morgen ein riesiges Spiel. Zur Unterstützung schicken wir dir ein paar nette, juckende Stress-Flecken."
Meine verdammt sensible Haut.
Sie reagiert über.
Völlig über.Klar, ist morgen riesig.
Klar, ist da Stress.
Klar, bin ich angespannt.
Aber doch nicht so.
Es ist alles gut.
Wirklich.Ich ignoriere die Stress-Flecken und scrolle stattdessen zur Ablenkung durch Instagram. Mein Feed strahlt in schwarz und gelb. Egal, wo ich hinschaue, ist da nichts anderes. Schwarz-gelbe Menschenmassen, die durch die Stadt pilgern und ihre Fahnen schwenken. Schwarz-gelbe Bars, in denen das Vorglühen beginnt. Schwarz-gelbe Bierflaschen aus einer Sonderedition.
Alles. Ist. Schwarz-Gelb.
Nichts ist normal.Die ganze letzte Woche haben wir uns darum bemüht, Normalität zu zelebrieren. Alles sollte seinen geregelten Gang gehen. Nur ein Spieltag, wie jeder andere auch.
Nur 90 Minuten, wie in jedem Spiel.
Nur Fußball, wie immer.
Aber alles ist schwarz-gelb.
Und nichts ist normal.Aber alles ist gut.
Wirklich gut.Ich sehe die Euphorie in den Gesichtern der schwarz-gelben Menschen.
Ich sehe ihre Hoffnung und ihren Traum.
Ich sehe ihre Liebe.
Und ich weiß, all das habe ich schon einmal gesehen.
Kurz bevor da nur noch Schmerz und Tränen waren.
Mir wird schwindelig.Ich brauche Ruhe. Ruhe. Ruhe. Um mich herum und in mir. Vor allem in mir. In Kopf und Herz. Überhaupt überall dort, wo einem Ruhe eben fehlen kann.
Ruhe. Ruhe. Ruhe.Ein Klopfen.
Ohrenbetäubend laut und schrill.Langsam erhebe ich mich vom Bett und gehe zur Tür. Lass es bloß nicht Marius sein. Bitte, bitte bitte, lieber Gott. Dämliche Sprüche, wie 'Bekommst du morgen einen meisterlichen Blow-Job?' sind das Letzte, was ich gerade noch brauche.
Das allerletzte.Als ich die Tür öffne, weiß ich, Gott gibt es nicht. Oder er hasst mich.
Abgrundtief.Marius und ein Wäschewagen.
Keine Ahnung, was das ist, aber es sieht aus wie das Gegenteil von Ruhe. Sicherheitshalber verschränke ich abwehrend die Arme vor meiner Brust, was Marius jedoch überhaupt nicht juckt. Hastig schiebt er sich und den gesamten Wäschewagen mit einem Blick über seine Schulter in mein Zimmer. "Alter, was wird das?" Statt einer Antwort, hantiert Marius an den Gestängen des Wäschewagens. Es knarzt und es quietscht. Als der Wagen geöffnet ist, wird es gruselig. Die Wäsche bewegt sich. Ohne Witz. Die Handtücher und Bettwäsche leben. SIE LEBEN. Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück, bevor mich, weiß Gott was, anspringt. Außer mir scheint niemand diesen Gedanken zu haben. Marius, der Irre, greift sogar in den Wäscheberg. Wühlt und schiebt ihn beiseite.
Und dann sehe ich einen Jutebeutel, der mir verdammt bekannt vorkommt. Gehalten von zwei Händen, die ich schon verdammt oft berührt habe. Nun senken sie sich langsam und bringen zum Vorschein, was ich seit fünf Sekunden eigentlich schon weiß.
Amina.
Zerzauste Haare und verrutschte Klamotten.
Funkelnde Augen, mit denen sie Marius fixiert.
Und dann mich.Das hier ist ein Bild für die Götter, die mich hassen oder Teil einer Hollywood-Komödie. Es ist lustig, ohne Zweifel. In jeder anderen Lebenslage hätte ich einen Lachflash des Todes erlitten. Nur gerade passiert nichts. Alles ist still und laut zugleich. Denn nichts ist normal.
Aminas funkelnde Augen verblassen. Sie werden tief und dunkel. Ein bisschen so, wie ich mich fühle. Dabei ist alles gut. Wirklich alles gut.
"Seid ihr noch zu retten???" Meine Worte gehen an beide, doch mein Blick liegt starr auf Marius. "Habt ihr auch nur eine Sekunde an die Konsequenzen gedacht, mhm? Was soll der Scheiß?" Niemand antwortet. "Was??? Mir geht es gut, kapiert ihr das nicht!" Diesmal schaue ich nur Amina an. Mit dem Jutebeutel vor der Brust hockt sie noch immer da, als wäre sie im falschen Film. Im falschen Wäschewagen. Doch dann steht sie ruckartig auf. Wie eine Löwin auf der Jagd steht sie plötzlich vor mir. Zwischen uns nur fünf Zentimeter. Das Funkeln in ihren Augen ist zurück.
Taxiert mich.
Raubkatzenmäßig.
Ich schlucke.
Beutemäßig.
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Zwischen zwei Welten // Julian Brandt
FanfictionAmina führt ein ziemlich normales Leben: sie studiert und jobbt nebenbei, um sich über Wasser zu halten. Julian führt kein ziemlich normales Leben. Er ist Fußballprofi beim BVB und lebt den scheinbaren Traum vieler Jungs. Zwei Welten, die sich nie...