Epilog

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Einige Jahre später

Amina ~

Ich liebe diese Ruhe.

Dieser völlig unbestimmte Zeitraum am Morgen, voller Stille und Stillstand, bevor der Trubel des Tages losbricht. Diese kostbare Zeit, in der ich die selbstverständlichsten Dinge wie Zähneputzen endlich mal wieder in Seelenruhe tun kann, ohne parallel mit mindestens zwei weiteren Dingen beschäftigt zu sein. Zeit, in der ich mir ein kleines bisschen Ordnung schenken kann, bei der zwar von vornherein klar ist, dass sie nicht besonders lange anhält, aber für diesen Moment, in dem all das Spielzeug mal in der dafür vorgesehenen Truhe liegt und nicht auf dem Teppich verteilt ist, bin ich beseelt.
Besonders dann, wenn ich allein bin. Allein mit allem.
Dem Lachen, dem Gequengel und dem ständigen 'Mama, Mama, Mama'.

An diesem Morgen beträgt die unbestimmte Zeit sagenhafte 23 Minuten. Das Ende meiner Ruhe kündigt sich durch das Geräusch tapsender Füße auf der Holztreppe an. Aus dem Tapsen wird ein Rennen und dann ist es da. "Mama, Mama, Mama." In der Küche erscheint ein gestresstes, vierjähriges Kind mit wirklich blonden, wirklich strubbeligen Haaren und einer Puppe namens Nisi im Arm.

"Heute kommt Papa, oder?"

Erwartungsvoll schaut Jonah mich an. Geradeso, als wäre er nicht sicher. Als hätten wir nicht extra einen Kalender gebastelt, auf dem er jeden Morgen ein Kreuzchen setzen kann. Ein Kreuzchen für jeden Tag ohne Papa. Dass er heute schon sein Kreuz gesetzt hat, verrät sein merkwürdig geschwärzter Daumen. "Jaaa, heute kommt der Papa", antworte ich. Jonah hüpft in der Küche auf und ab. "Juhu. Endlich. Ich freu mich schon sooooooo doll." Sein Strahlen umarmt nicht nur Nisi, sondern mich gleich mit. "Das waren soooo viele Tage." Zwischen seinen ausgebreiteten, dünnen Ärmchen stapeln sich die vielen Tage, als wären es Hunderte. "Jo, es waren vier Tage. Nur vier Tage", erkläre ich ihm amüsiert. Dass ich technisch gesehen Recht habe, interessiert Jonah reichlich wenig. Für ihn war es eine Ewigkeit und vielleicht, nur vielleicht fühle ich das auch.
Aber nur ein bisschen.
Und eigentlich doch nicht.

Jonah klettert auf seinen Kinderstuhl, wo er dann betrübt über Nisis Bauch streicht. "Was ist los?", frage ich ihn. "Nisi hat schlimmes Bauchweh." Ohje. Ich gehe zu ihm und streiche erst über seinen Kopf, dann über Nisis Bauch. "Hat Nisi schon ihr Fläschchen bekommen?" Jonah schüttelt den Kopf. "Sie hat keinen Hunger." Jonah ist sich sehr sicher. So sicher, wie das ist, wenn man ein Herz und eine Seele ist. "Vielleicht hat sie zu viel Luft im Bauch", überlege ich. Jonah sieht mich kurz an und legt Nisi dann an seine Schulter, wo er vorsichtig auf ihren Rücken klopft. Mit vier Jahren weiß man sowas eben. Er schüttelt traurig den Kopf. "Manchmal hilft Wärme, wenn man Bauchweh hat. Dann entspannt sich der Bauch. Soll ich für Nisi mal eine Wärmflasche machen?" Jonah schaut mich wieder an und überlegt.

"Ich muss Papa fragen."
Autsch.

Das hat man davon, wenn der Papa die Elternzeit übernimmt.
Nach anderthalb Jahren, die ich mit Jonah Zuhause war, fühlte sich der Wiedereinstieg in meine Arbeit irgendwie seltsam befreiend an. Das hatte nichts mit mangelnder Liebe zu Jonah oder meiner Familie als Ganzem zu tun. Es war einfach schön, mal wieder mehr zu haben als das Gebrabbel unseres Sohnes. Mal wieder mehr zu sein als nur Mama. Als ich zwei Jahre später wieder schwanger wurde, war ich glücklich. Wir waren glücklich. Nur war da dieses kleine beklemmende Gefühl in meiner Brust, wieder nicht mehr arbeiten zu können. Bis eines Abends Julian über die Wölbung meines Bauches strich und mich fragte, was ich davon hielte, wenn er das diesmal machen würde.
Die Elternzeit.
Mit allem drum und dran.
Auch und vor allem mit der Konsequenz, seine Karriere an den Nagel zu hängen. 'Welchen Unterschied macht es, wenn ich noch eine Saison, vielleicht zwei spiele und dann aufhöre, weil ich nicht mehr kann oder eben jetzt. Jetzt, wo es Sinn macht. Für die Kids, für mich und für dich.'
Er meinte es ernst.
Deswegen fallen Kindererziehung und Puppen-Hüten fortan in den Kompetenzbereich des Papas. Mama ist eher die, die zur Arbeit geht. Und die, die kocht, weil das seltsamerweise noch immer nicht im Kompetenzbereich des Papas liegt.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt