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Amina ~

Als ich die Wohnungstür aufschließe, habe ich das Gefühl in die Vergangenheit zu reisen. Eine Zeitreise durch ein Portal, datiert auf Mai letzten Jahres. Kaum trete ich über die Türschwelle, durchzieht mich der gewohnte Geruch.
Ich hätte ihn nicht beschreiben können.
Ich hätte mich nicht einmal daran erinnern können.
Doch nun stehe ich hier im Flur und werde von diesem vertrauten Geruch eingehüllt.
Und plötzlich ist die Erinnerung an den Geruch wieder so klar. Glasklar.
Als wäre ich das letzte Mal erst gestern hier gewesen, nicht vor über einem Jahr.
Es ist doch verrückt, wie der Körper manche Dinge, manche Eindrücke nie vergisst.
Man hätte mich mit verbundenen Augen in hundert Wohnungen führen können und ich hätte sie erkannt. Allein an ihrem Geruch, als wäre ich ein ausgebildeter Sprengstoffspürhund. 

Ich habe keine Ahnung, wie Sprengstoff für einen Hund riecht. Ich weiß nur, dass der Geruch dieser Wohnung nichts mit Sprengstoff zu tun hat.
Er ist nicht explosiv. Nicht zerstörend. Nicht entzündlich. 
Eher dezent und sanft, wie eine Wolke. Eine Wolke aus Deoresten, Prafümspuren, Kaffeehauch und einer Prise Möbelduft. Und ganz viel Julian. 

Julians Wohnung riecht so wie immer. Als wäre er nie weg gewesen. Als würde er jeden Moment die Holztreppe hinunter kommen, um mich zu begrüßen. 
Doch das wird er nicht.
Denn er weiß nicht, dass ich da bin.
Er hat keine Ahnung, dass ich gerade in seiner Wohnung stehe, während er noch in Brackel Freistöße über eine Mauer aus Robotern zirkelt. In den Winkel, natürlich. 

Das hier ist eine Überraschung.
Zumindest hoffe ich, dass es eine für ihn ist, wenn er nachher vom Training kommt. Ehrlicherweise ist es auch für mich eine Überraschung hier zu sein.
Heute zumindest.
Eigentlich hätte ich nämlich arbeiten müssen. Eine Weiterbildung stand  für heute auf meinem Plan, die jedoch aufgrund von Krankheit der Dozentin auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Ich wünsche niemandem irgendeine Krankheit, aber ich würde lügen, wenn ich behaupte, die Email hat keine Luftsprünge bei mir ausgelöst.
Und so stehe ich nun einen Tag eher, als geplant in Julians Wohnung und sauge den vertrauten Geruch auf. 

Ich stelle meinen kleinen Koffer neben der Garderobe ab und streife mir meine weißen Sneaker von den Füßen. Ordentlich platziere ich sie neben all die anderen weißen Sneaker, die meine, wie Zwergenschuhe aussehen lassen. Warum ein einzelner Mensch zehn Paar weißer Nike Air Force braucht, bleibt dabei ein Rätsel.
Ein Rätsel, wie der Besitzer selbst.
Während ich die stolze Schuhsammlung kopfschüttelnd betrachte, zieht ein Schmunzeln über meine Lippen. 

Als ich weiter in das Wohnzimmer trete, verändert sich mein Schmunzeln zu einem breiten Grinsen. Mein erster Blick fällt auf etwas Weiches. Etwas Flauschiges. Etwas Warmes. 
Kuscheldecken.
Zwei an der Zahl.
Weiß und Grau.
Die weiße Decke liegt sorgfältig zusammengelegt auf meiner Seite des Sofas.
Die graue Decke liegt auf Julians Stammplatz. Im Gegensatz zu meiner ist sie jedoch nicht sorgfältig zusammengelegt.
Nein, Nein.
Sie liegt auf einem Haufen. Ganz so, als wäre sie erst kürzlich in Benutzung gewesen. Erwischt, würde ich sagen. Es würde mich nicht wundern, wenn er sogar die Kerze angezündet hat.
Die Kerze, über die er sich beschwert hat.
Die Kerze, die er angeblich immer nur für mich angemacht hat. 

Leise lachend gehe ich nach oben auf die Toilette. Auch dort hat sich absolut nichts verändert. Noch immer stehen der Pinguin und das Badesalz an Ort und Stelle. Auf dem Weg nach unten komme ich an meinem Zimmer, dem Gästezimmer vorbei. Die Tür steht einen Spalt offen, lässt mich auf die graue Wand mit den weißen Farbspritzern blicken. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe dem Instinkt in das Zimmer einzutreten zu widerstehen. Als ich vor der Wand stehe, werde ich überflutet. Überflutet von Gefühlen, Erinnerungen und jeder Menge Wärme. Die Wärme dieser Wand. Sie ist nicht warm, weil die Sonne den ganzen Tag darauf geschienen hat. Sie ist warm, weil da so viele Gefühle drin stecken. Der Künstler Paul Klee soll einmal gesagt haben: "Kunst gibt nicht das sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar."
Was diese Wand sichtbar macht, ist die emotionale Wärme und die Verbundenheit derer, die sie erschaffen haben. Vielleicht liegt darin der Unterschied zu anderen Kunstwerken. Kunst soll immer etwas transportieren. Der Künstler überlegt sich, was diejenigen, die das Werk später betrachten, sehen sollen. Was er sagen will. Wir hingegen hatten nichts zu sagen. Zumindest dachten wir das. Und doch haben wir mit dieser Wand irgendwie alles gesagt. Alles gesagt, aber damals nur die Hälfte verstanden. 

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt