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Amina ~

Der Wecker klingelt.
Verschlafen taste ich nach meinem Handy.
Rolle mich auf die Seite und kneife die Augen zusammen, als das helle Licht des Bildschirms auf meine Pupillen trifft.

Wie jeden Morgen und jeden Abend öffne ich WhatsApp.
Tippe auf den einen Chat.
Wohlwissend, dass da nichts ist.
Nichts heute.
Nichts morgen.
Nichts übermorgen.

Starre wie jeden Tag auf die letzte Nachricht. Mittlerweile kann ich sie auswendig.

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Hey Amina,
Ich habe in den letzten Wochen gemerkt, dass ich Abstand brauche. Deswegen habe ich mich wohl ziemlich zurückgezogen, ohne was zu sagen. Das ist unfair dir gegenüber. Daher wollte ich es dir zumindest nun auf diesem Weg schreiben...
Mach's gut.
Tut mir leid.
Julian
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Keine Erklärung.
Keine Fragen.
Mach's gut.
Auf Nimmerwiedersehen.

Einfach so.

Ich will ihn anschreien dafür.
Ihn schütteln.
Ihm eine Klatschen.
Weinend vor ihm zusammenbrechen.
Ihn in den Arm nehmen.
Je nach meiner Gefühlslage.

Ewig habe ich überlegt, was ich zurückschreibe. Doch es ist unmöglich so viele Emotionen in eine Nachricht zu bekommen. Zumal sie sich ja eben ständig ändern. Und irgendwie haben mir einfach die Worte gefehlt. 

Was soll ich noch sagen, wenn er doch so deutlich gemacht hat, dass er Abstand braucht?
Wer bin ich, dass ich je darüber urteilen könnte, was Julian wirklich braucht? 
Wie könnte ich mich ihm aufzwingen, wenn ich mir an seiner Stelle wünschen würde, dass jemand meine Grenzen respektiert?

Also schreibe ich nichts.
Hoffe stattdessen, dass ich doch irgendwann eine Nachricht finde.
Auch wenn ich eigentlich weiß, dass ich es nicht tun sollte. Denn es nimmt mir die Möglichkeit weiter zu machen.

Es war Julians Entscheidung den Stecker zu ziehen.
Er hat eine Erklärung.
Er hat ein bewusstes Ende.
Er kann weiter machen.
Mir hingegen fehlt all das.
Ich bleibe zurück mit der Hoffnung.

Seufzend entscheide ich mich dazu, zumindest mit meinem täglichen Leben weiter zu machen, wenn ich schon in meinem Gefühlsleben stecken geblieben bin. Also lese ich meine neuen Nachrichten. Denn zum Glück habe ich ja noch andere Menschen in meinem Leben. Menschen, die mir schreiben.

Im Gruppenchat mit meinen Freundinnen fragt Flo, ob wir vier uns am Wochenende in zwei Wochen treffen wollen. Carla und Nelly haben bereits kund getan, dass sie an dem Samstag können. Also schicke ich einen Daumen nach oben in die Gruppe. Ist ja schließlich nicht so, als würde ich das Wochenende in London verbringen.
Ich habe nun Zeit.
Massig Zeit.
Erst jetzt fällt mir auf, wie viel Zeit ich mit Julian verbracht habe. Egal, ob am Telefon, in Dortmund oder sonstwo.

Bedeutet, dass ich nun mehr Zeit für meine Freundinnen, meine Familie und mich selbst habe. Ich muss nicht mehr planen und zum Zug sprinten. Habe keine kurzen Nächte mehr, aufgrund von exorbitanten Telefonaten. Man muss es eben einfach positiv betrachten.
Aus jeder noch so großen Dürre wächst wieder eine schöne Blumenwiese. Nur werden die Blumen vielleicht andere sein als zuvor. Ich schätze also, dass ich mir eine sehr große Gießkanne zulegen muss.

Nachdem ich meine Nachrichten beantwortet habe, checke ich noch die News dieser Welt. Denn auch wenn meine Gefühle meinen, dass meine Welt direkt hinter Julian aufhört, tut sie das nicht. Er ist nicht der Mittelpunkt der Welt.

Apropos Julian. Wie die bösen Geister das eben manchmal so einleiten, trägt die dritte Newsmeldung folgenden Titel: 'Julian Brandt verlässt überraschend die Nationalmannschaft.' Daneben ein Foto von Julian aus irgendeinem Spiel. Abgekämpft. Gequälter Gesichtsausdruck. Natürlich öffne ich den Artikel und lese ihn. 'Nationalspieler Julian Brandt reist am Abend überraschend aus dem Kreise der Nationalmannschaft ab. Als Grund dafür werden muskuläre Probleme genannt. Schleierhaft ist allerdings, warum  Bundestrainer Hansi Flick dies nicht schon einige Stunden zuvor im Rahmen der Pressekonferenz öffentlich bekannt gab.' Instinktiv mache ich mir Sorgen. Dagegen kann ich mich nicht wehren.
Unterdrücke dann aber doch den Impuls ihm zu schreiben.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt