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Julian ~

Im ersten Moment bin ich mir nicht sicher. Im ersten Moment denke ich, ich bilde es mir ein.
Wie ich mir das wünschen würde. 
Einfach, weil ich mir das hier wünsche.
Doch es ändert nichts.
Es ändert nichts daran, dass ich es eben doch spüre.
Ob ich nun will, oder nicht. 

Bis eben war das hier ziemlich perfekt.
Wie Amina mich angesehen hat, als ich ihr die seltsame Orchideen - Geschichte erzählt habe. So gerührt, als hätte man jemandem einen Strauß roter Rosen und eine Million großer, romantischer Worte überreicht.

Dabei war es streng genommen nichts.
Nur eine zufällig entstandene Anekdote. Eine Metapher, eine Parabel, ein Gleichnis.
Für das, was ich sehe, wenn ich sie ansehe. Für das, was ich fühle, wenn ich an sie denke.
Für Amina.
Für Amina...und wahrscheinlich meine Liebe zu ihr.

Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Amina mein 'Nichts' mehr berührt, als ein Strauß roter Rosen und eine Million großer, romantischer Worte sie jemals berühren könnte.
Weil sie ein Mensch der kleinen Dinge ist. Ein Mensch der echten Dinge.
Ein Mensch der besonderen Dinge.

Und dann wurde es noch perfekter, als sie mich geküsst hat. Die Art, wie sie es getan hat. So impulsiv, so drängend. Als könnte sie explodieren, würde sie es nicht tun. Jeder Kuss noch intensiver, als der zuvor.
Sie wollte es.
Sie wollte mich.
Sie wollte uns.
Eng aneinander gepresst.
Jeden Zentimeter des anderen spürend. Keuchend, Stöhnend, Seufzend.
Einfach, weil es so verdammt gut ist.
Weil alles um einen herum ein bisschen verblasst.
Ein bisschen verschwimmt.
Ein bisschen unscharf wird.
Wie durch eine beschlagene Fensterscheibe zu sehen. Eine beschlagene Fensterscheibe, weil man ziemlich lange, ziemlich heiß geduscht hat. 

Denn das war es.
Heiß.
Unglaublich heiß.

Doch nun ist es das nicht mehr.
Nun ist es, wie wenn man Stunden nach seiner heißen Dusche wieder in das Badezimmer tritt. Man wird erschlagen, von der kalten Feuchtigkeit im Raum, die in jeder Ecke lauert. All die feuchte Hitze ist nun irgendwie nur noch nass, kalt und eklig.
Die Grundlage von Schimmel.

Es ist nicht so, als hätte Amina aufgehört.
Sie ist keine Statue und auch kein Eisblock. Sie hat nicht aufgehört zu küssen, nicht aufgehört zu berühren.
Doch es ist nur noch ein Zurück-Küssen und Zurück-Berühren.
Als wäre sie nicht mehr sie selbst, sondern nur noch ein Spiegel

...oder eine Marionette.

Wie eine Atombombe schlägt die Erkenntnis bei mir ein. Verstrahlt alles, was da eben noch war. 
Amina ist nur noch eine Marionette. Eine Marionette, die durch dünne, unscheinbare und trotzdem so wirkmächtige Fäden gesteuert wird. Eine Marionette, deren Fäden ein anderer hält. Die Frage ist bloß, wer?
Vielleicht die Vergangenheit
Vielleicht ein abgesplitterter Teil von Amina selbst.
Vielleicht ich.

Nein, ich nicht.
Ich kann, will und werde es nicht sein.
Das habe ich mir geschworen.
Ich spiele kein Spiel mit, in dem sie sich selbst verletzt.

Mein Herz rast, weil die Erkenntnis mir die Kehle zuschnürt. Mir wird speiübel, von dem Gedanken, etwas getan zu haben, was sie doch nicht so richtig wollte.
In mir ist jede Menge los.
Rat-los. Plan-los. Hilf-los.
Vor allem das. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.
Wie ich hiermit umgehen soll.
Was ich sagen soll, damit das wieder irgendwie okay wird.

Ich kann sie nicht weiter küssen.
So viel steht immerhin fest.
Jeder Kuss fühlt sich auf einmal falsch an. So unecht. So gezwungen.
Stattdessen gebe ich ihr einen Kuss auf die Schläfe und lege meinen Kopf an ihre Halsbeuge. Weil ich mich nicht traue ihr in die Augen zu sehen. Langsam versuche ich wieder zu Atem zu kommen, während das Pulsieren meines Körpers verebbt.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt