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Julian ~

Fünf Minuten.

Die roten Zahlen auf der Anzeigetafel sind heute noch ein bisschen roter als sonst. Leuchtender. Stechender. So wie alles an mir sticht. Es sticht und es brennt.
Die Lunge.
Die Muskeln.
Einfach alles.

Doch gleichzeitig spüre ich nichts davon. Da ist nur diese Energie, die durch das Stadion bebt und alles ein bisschen elektrisiert. Dieses Stadion ist immer laut. Aber heute ist 'laut' lediglich ein Flüstern gegen, das was hier gerade abgeht. Sprechchöre hallen von der Süd bis zur Nord. La Ola Wellen ziehen von Ost bis West.
Es sind nicht mehr wir Spieler, die dieses Spiel spielen.
Es sind die Fans.
Sie laufen für uns.
Passen für uns.
Hauen sich in jeden Zweikampf.

Heute werden wir deutscher Meister.

80.000 Menschen in diesem Stadion und keine Ahnung, wie viele tausend davor, glauben daran. Ich glaube daran. Schließlich kratzt die Erkenntnis seit etwa zehn Minuten gehörig an meiner Wade.
Jeder von uns blickt ständig auf die Anzeige.
Als würde es der Zeit Druck machen.
Als würde es die Minuten schneller vergehen lassen.
Natürlich erfolglos.
Obwohl die Zeit sicher zu den größten Stressfaktoren überhaupt zählt, ist sie gleichzeitig verdammt stressresistent.
Und um ihre Macht zu demonstrieren, vergeht sie noch ein bisschen langsamer als sie es eigentlich müsste.

So langsam, dass wir noch eine Ecke verteidigen müssen.
Sie kommt hoch auf den zweiten Pfosten.
Sie kommt gut.
Verdammt gut.
Schlotti steigt nicht hoch genug, Niki rutscht der Ball über den Spann und direkt auf den Fuß des gegnerischen Stürmers. Mein Herz bleibt stehen und das der Fans auch. Herzen bleiben stehen. 81 365 plus 11 auf dem Platz und Dutzend auf der Bank Herzinfarkte dämpfen urplötzlich die aufgeheizte, gut gelaunte Stimmung des Stadions, als er abzieht. Viel zu platziert und noch dazu verflucht scharf.
Die Königsdisziplin im Tore schießen.
Unhaltbar.

Ich sehe alles.
Wie der Ball im Netz zappelt, so richtig hässlich und vernichtend.
Wie Beerdigungsstille durch das Stadion zieht, so richtig herzzerbrechend und enttäuschend.
Ich sehe das schon.

Nur kann niemand in die Zukunft schauen.
Bruchteile von Sekunden sind eben doch Zeit. Und in einem dieser Bruchteile lernt Emre fliegen. Er wirft sich in die Flugbahn, mit seinem ganzen Herz und völlig ohne Kopf. Irgendwie erwischt er den Ball und schießt ihn im Fliegen irgendwo bis an die niederländische Grenze.
Hauptsache weit.
Weit weg.
Es gibt Einwurf.

Und dann den Pfiff.
Die Erlösung.

Das Stadion bricht auseinander. Herzen, die vor ein paar Augenblicken noch  still standen, beben wieder. Wir Spieler fallen übereinander. Ein Haufen Schwarz-gelb bildet sich auf dem Feld. Ich bin darin begraben und es ist das beste dieser Welt. Und dann tanzen wir miteinander und mit den Fans direkt vor der Süd.
Jeder strahlt.
Jeder lacht.
Jeder jubelt.

Die Gesichter, in die ich blicke, sind nicht leer wie damals.
Sie sind voll, bunt und glücklich.
Diesmal haben wir es geschafft.
Tatsächlich geschafft.
Und es tut so verdammt gut.

Kurz darauf laufen die ersten Kinder in schwarz-gelben Trikots laufen auf den Rasen. Sie tragen die Nummern ihrer Väter, das Lächeln ihrer Eltern und ihre eigene kindliche Energie.
Es sind die Kinder, die rennen. Mütter, Ehefrauen und Freundinnen gehen. Keine Ahnung, warum, aber eigentlich ist das so.
Nur eine, die ignoriert das.

Natürlich Amina.

In meinem Trikot sprintet sie quer über den Platz, als wäre sie fünf und alles scheiß egal. Ich grinse, weil tatsächlich alles scheiß egal ist. Ich grinse, bis sie näher kommt und ich ihr Grinsen nicht finde. Selbst ein Lächeln suche ich vergeblich. Als sie mir in die Arme springt und mich beinahe umwirft, weiß ich warum.
Amina ist gestorben.
So richtig.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt