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Julian ~

Es war völlig klar, dass es sich irgendwann einmal ändern würde.

Wir wussten das.

In der Theorie war das sogar okay.

In der Praxis ist es das nicht.

Da ist es einfach irgendwie mies.

***

Was mich an diesem Morgen aufweckt, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht der pfeifende Januar-Wind, der sich geräuschvoll gegen das geschlossene Rollo presst. Vielleicht aber auch die Kälte des Kissenbezuges unter meinen Fingern, die von eben diesen Fingern bis in meine Brust zieht.

Irgendwie ist es einfach kalt.

Das Wetter draußen, der Kissenbezug drinnen. Tief in mir weiß ich, dass es nicht bloß der Kissenbezug ist, sondern auch die Decke, das Laken und die Matratze darunter.

Noch bevor ich mich dazu überwunden habe, die Augen zu öffnen, weiß ich, dass sie nicht da ist.
Nicht mehr. Es ist eine dieser inzwischen viel zu häufig gewordenen Nächte, in denen Amina flüchtet.

Vor stundenlangem Herumwälzen und pausenlosen Gedanken.
Vor schlechten Träumen.
Vor keine Ahnung was.
Vielleicht vor mir.

Ich öffne meine Augen trotzdem und blinzle der Realität ins Gesicht.
Sie ist kalt, dunkel und hart.

So schleiche ich die hölzerne Treppe hinunter. Jede einzelne Stufe scheint kalt an meiner Fußsohle zu kleben, dabei sind die Holzstufen eigentlich glatt. Meine Schritte hinterlassen ein tapsiges Geräusch, was mich dazu bringt, noch ein bisschen langsamer zu schleichen. Vorsichtig, um Amina nicht zu wecken, falls sie auf dem Sofa schläft. Und irgendwie auch vorsichtig, weil ich manchmal nicht mehr weiß, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll.
Was richtig und was falsch ist.
Was gut und was schlecht ist.
Wer Amina ist.

Als ich unten ankomme, sehe ich sie unter ihrer weißen Kuscheldecke vergraben auf dem Sofa sitzen. Ihre Beine hält sie angezogen vor ihrem Bauch umschlungen, während wie so oft in letzter Zeit auf den Knien ein aufgeschlagenes Buch balanciert. "Moin", sage ich gähnend mit dem Versuch, normal zu wirken. Normal zu fühlen. Normal zu sein. Einen kurzen Augenblick lang dreht Amina ihren Kopf zu mir, streicht mit den Fingern weichen Flausch glatt und müht sich zu einem Lächeln. Es ist ein müdes Lächeln ohne Zukunft. Irgendwie unecht und verdammt schmerzhaft.

"Wieder schlecht geschlafen?", frage ich, den Schmerz verdrängend. Amina nickt. Zaghaft und wenig. So wenig wie seit Wochen. "Halb fünf habe ich aufgegeben und bin aufs Sofa umgezogen." Seufzend sieht sie mich an. Alles an ihr wirkt so gequält. Die hängenden Schultern, das müde Lächeln, die angezogenen Beine. Ihr Körper schreit nach Schutz und ich frage mich jedes Mal, wovor. "Was ist los?" Eine Frage, die ich im Laufe der Wochen schon in allen Variationen gestellt habe, ohne je eine richtige Antwort bekommen zu haben.

"Ich...", beginnt Amina. Lässt Hoffnung keimen, dass es diesmal anders sein könnte. Dass sie mir diesmal erzählt, was in ihr vorgeht. Warum sie ein Ticken leiser, ein Ticken dunkler und ein Ticken weiter weg ist.

Zögerlich bewegen sich ihre Lippen aufeinander, ohne auch nur einen weiteren Laut von sich zu geben. Ein bisschen so, als würde sie Worte suchen. Worte oder Mut. "...Ach keine Ahnung. Vielleicht ist es bloß die Jahreszeit." Ein bisschen scheitert sie damit an beidem. Und ich scheitere vermutlich an allem. Stumm suche ich in ihrem Gesicht nach Antworten. Als könnten mir Stirnfalten, Nasenflügel und Mundwinkel etwas verraten. Vielleicht können sie das manchmal tatsächlich, doch gerade sind sie vor allem eins: Unschlüssig.
So unschlüssig wie Amina selbst.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt