115

407 31 11
                                    

Julian ~

Schlotti kann es mal wieder nicht lassen. Unaufhörlich tippt sein Zeigefinger auf den Klingelknopf, als hätte er Zuckungen oder den wahnsinnig dünnen Geduldsfaden eines Dreijährigen. "Wir sollten uns verstecken!" Drei. Definitiv drei. "Alter, was knallt denn bei dir schon wieder?!" Emre stöhnt. Es klingt nach irgendwas zwischen genervt und amüsiert. Denn so ist das irgendwie: Typen wie Schlotti braucht man. Warum oder wozu, das ist nicht immer klar, aber man braucht sie. "Jaja, schon gut, ihr Langweiler", gibt Schlotti auf. Endlich öffnet sich die Tür, auch wenn 'endlich' eine glatte Übertreibung darstellt. Im Grunde wäre ich an jedem anderen Ort dieser Welt lieber als bei Marius. Okay, vielleicht ist das gelogen. Nicht an jedem. Zuhause, so furchtbar das klingt, wäre ich auch nicht lieber. Da wäre nur Amina und mit ihr die klirrende Kälte.

Und ich mag es eben warm.

In der Tür erscheint Marius...oder jemand, der ihm verdammt ähnlich sieht. Wäre es tatsächlich Marius, dann würde er bekloppt grinsen und Schlotti einen Spruch zu seiner Klingelshow drücken. Stattdessen bleibt die Marius-Imitation merkwürdig leise und schaut betrübt in die Runde. Nein, nicht die Runde. Eigentlich schaut er mich bloß an. "Soll das eine Treppenhausparty werden?", fragt Schlotti unnötigerweise, bevor er sich ungeduldig an Marius vorbeiquetscht. Marius öffnet die Tür noch ein Stück weiter, sodass der Flur und ein Teil des Wohnzimmers sichtbar werden.

Und da steht sie.
Amina.
Schon wieder wird mir kalt.
Warum zur Hölle ist sie noch immer hier, wenn es doch nur um ein Stück Torte ging?

"Ach, hey. Er hat gar nicht erzählt, dass du auch da bist", redet Schlotti drauf los und gesellt sich zu Amina. Was sie antwortet, höre ich nicht. Da ist schon wieder Marius, dessen Augen sich in meine Haut bohren. Zum ersten Mal an diesem Abend weiche ich nicht aus. Mein Blick schweift nicht weiter, sondern trotzt seinem.

Und da fällt es mir auf.
Marius' Haar ist völlig durcheinander, sein Kopf gerötet, sein Mundwerk so verflucht still.
Irgendwas ist passiert.

Emre zwängt sich an mir vorbei in die Wohnung. Er schlägt bei Marius kurz ein und marschiert dann weiter. Weiter bis zu Amina, die inzwischen beinahe im Flur steht und begrüßt sie.
Und da fällt mir noch mehr auf.

Aminas Haare sind ebenfalls durcheinander. Der Dutt hängt ein bisschen auf Halbmast, als könnte er jeden Moment zerfallen. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen glasig. Sie sieht geknickt und ein wenig verloren aus, wie sie dort im Flur steht und ihre Hände knetet. Dass Amina geweint hat, ist nicht zu übersehen. Nicht für mich. Da ist ein Teil, der will sie einfach in den Arm nehmen, den Dutt vor dem Zerfall retten und sie festhalten, bis der Knick aus ihrem Körper verschwindet.

Doch da ist auch das Stechen in meiner Brust.
Ein Stechen, weil auch Marius aufgewühlt aussieht.
Ein Stechen, weil Amina immer ein bisschen fröhlicher von Marius zurück kommt.
Ein Stechen, weil Amina zu Marius' Geburtstag in seinem Arm lag.
Ein Stechen, weil Amina Stunden hier verbracht hat.
Ein Stechen, weil alles daran sticht.

Marius, der schon immer was von Amina wollte. Amina, die Marius schon immer mochte.
Marius und Amina.
Aufgewühlt, errötet, durcheinander.
Was, wenn es passiert ist?

Ich weiß nicht, was ich zuerst tun soll.
Kotzen oder sterben.

Letztendlich tue ich nichts dergleichen. Ich stehe einfach da wie angefroren und festgeklebt. Dabei würde ich alles dafür geben, einfach weg zu sein. Wirklich, ich würde alles geben, um es nicht erleben zu müssen. Um nicht spüren zu müssen, wie mir das Herz aus der Brust gerissen und mir vor die Füße geworfen wird. Um einfach nicht fühlen zu müssen.

"Können wir reden?"

Amina steht drei Schritte vor mir und zwei neben Marius. Ich bleibe stumm, in der Hoffnung einfach nicht da zu sein, wenn ich nur fest genug daran glaube. "Juli, bitte..." Aminas Stimme gleicht einem gebrochenen Flehen, das mich schmerzhaft daran erinnert, dass ich doch noch da bin. Und noch immer fühle. Irgendwo hinter Amina drehen sich Köpfe in unsere Richtung. Schlotti und Emre spitzen neugierig die Ohren, was mich daran erinnert, wo ich bin und wer sich hier noch befindet.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt