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Julian ~

Es hämmert in meinem Kopf.

Fuck.

Fuck. Fuck. Fuck.

Meine Finger krallen sich in den Felsblock. Starr blicke ich darauf. Ich halte mich förmlich daran fest. Würde ich meinen Kopf heben, dann würde ich sie sehen.
Ich würde sehen, wie Amina weggeht. Schon wieder.
Und das ertrage ich nicht.
Es klingt so dämlich. So unlogisch.
Schließlich bin ich derjenige, der sie so eben davon gejagt hat.
Nachdem sie mir so nah war.
Vielleicht so nah, wie noch nie.

Warum ist es ausgerechnet Amina, auf die ich reagiert habe?
Warum nicht Jannis?

Die Fragen sind schwachsinnig.
Ich kenne die Antwort.
Amina ist die einzige, die irgendwie durch meine Mauern sehen kann. Sie sieht in Ecken meines Selbst, in die nicht einmal ich schaue. Entweder, weil sie dreckig sind oder weil mir das Licht dafür fehlt.

Ich fühle mich nackt.
So verdammt nackt.

Ich saß zusammengekauert vor diesem Stein, wie ein Häufchen Elend.
Da war nichts mehr von dem Julian übrig, den alle kennen.
Da war nichts mehr von dem Julian übrig, der vor zehntausenden Menschen Fußball spielt.
Da war nichts mehr von dem Julian übrig, der Arroganz mit Humor kaschiert.
Da war nur noch eine zitternde Ansammlung an Teilchen.

Alle haben es gesehen.
Amina hat es gesehen.
Sie ist extra zurück gekommen, um zu helfen. Um mir zu helfen. Weil sie eben so ist.
Und ich hasse es.
Ich hasse es, dass sie mich so gesehen hat.
So aufgelöst, so fertig, verletzlich.
Ich schäme mich dafür. Einfach weil ich so doch nicht bin.
Ich bin nicht gebrochen.
Ich bin nicht kaputt.
Ich habe die Kontrolle.
Über mich, meine Gefühle und mein Leben.

Ich muss schlucken, als mir klar wird, dass ich mir wohl etwas vormache.
Doch ich versuche es noch immer zu verdrängen.
Alles.
Wenn ich ehrlich wäre, dann müsste ich zugeben, dass ich die Kontrolle nicht mehr wirklich habe. Und zwar nicht erst seit der Panikattacke.
Doch was dann?
Wenn du die Kontrolle verloren hast, wie zur Hölle bekommst du sie zurück, ohne im Besitz davon zu sein? Das schließt sich doch förmlich aus.

Also klammere ich mich an das letzte Fünkchen Kontrolle, das ich habe und gebe mich stark.
Stark und voller Kontrolle.
Ich tue so als, wäre alles zuvor nicht passiert.
Als hätten sich meine Fingernägel nicht krampfhaft in meine Knie gekrallt.
Als wäre mein Herz nicht beinah explodiert. Als hätte ich mich nicht verzweifelt an Aminas Hand festgehalten.

Ich tue so, als wäre es nicht so schlimm gewesen.
Jannis hat überreagiert.
Ich hätte Amina nicht gebraucht.
So einfach ist das.
Mir geht es gut. Mir geht es gut.
Ich habe die Kontrolle.

"Was sollte das!? Mhm?", zischt mein Bruder mich an. Ich entscheide mich ihn zu ignorieren.
Wie soll ich ihm das auch erklären?
Amina geht mir so verflucht unter die Haut, dass es mir manchmal einfach Angst macht. Und dann sage ich Dinge, die ich nicht meine.

"Erde an Julian, ich rede mit dir!", versucht Jannis es wieder. Diesmal schaue ich ihn an. Mein Bruder steht zwei Meter entfernt von mir, die Arme vor der Brust verschränkt. Er sieht mich mit diesem durchdringenden Blick an. Versucht in irgendwelche Ecken meines Selbst zu spähen. Doch im Gegensatz zu Amina, scheitert Jannis gerade. Das erkenne ich, als er wütend schnaubt und sich seine Hände frustriert in seine Haare krallen.

Er setzt wieder an, um etwas zu sagen. Doch Alishas Hand auf seinem Arm hält ihn davon ab. Sie sieht ihn an. "Lass ihn, Jannis. Das war gerade extrem belastend. Gib ihm Zeit runter zu kommen. So bringt es ohnehin nichts.", sagt Alisha vorsichtig und sieht kurz zu mir. Ich schlucke. Jannis' Blick pendelt zwischen mir und Alisha.
Dann nickt er bloß.
Gott sei Dank.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt