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Amina ~

Mein Fuß wippt unter meinem Schreibtisch auf dem roten Linoleum auf und ab, während darüber meine Finger ungeduldig auf der Tastatur meines PCs tippen. Die letzte E-Mail. Das übliche 'Mit freundlichen Grüßen' am Ende einer E-Mail war selten freundlicher und die automatische Signatur wirkt heute wie eine Verheißung. Ohne die E-Mail auf Rechtschreibung und Kommata zu überprüfen, klicke ich schnell auf den Button mit dem Briefumschlag. Senden. Die Brieftaube fliegt los, während ich hinter ihr alle Fenster schließe. Endlich, endlich, endlich. Ich werfe einen letzten Blick auf meinen Kalender, um mir einen Überblick über den nächsten Tag zu verschaffen. Nebenbei kritzele ich mit Bleistift eine knappe Erinnerung auf einen Notizzettel, in der Hoffnung, sie morgen noch entziffern zu können. Da leuchtet das Display meines Handys kurz auf. Signalisiert eine neue Nachricht. Mit meinem Daumen entsperre ich das Handy und lese die Nachricht.

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Bin draußen
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Viel kürzer hätte die Nachricht nicht sein können, aber sie reicht aus. Sagt alles, was ich wissen muss. Jannis ist schon da und wartet draußen. Yeees. Heute ist nämlich Mittwoch. Champions-League-Mittwoch, besser gesagt. Der Grund, warum mein Arbeitstag heute ein wenig an mir vorbeigeflogen ist. Alles wirkte ein bisschen kleiner als sonst. Ein bisschen unbedeutender als üblich. Ein bisschen leichter als normalerweise. Spieltage, so viel steht inzwischen fest, sind meine liebsten Arbeitstage. Egal, ob DFB-Pokal, Freitagabendspiel in der Bundesliga oder eben Champions League. Die Vorfreude auf das Spiel überträgt sich auf meine Arbeit. Es ist nicht so, dass ich sonst keine Freude dabei hätte. Inzwischen fühle ich mich deutlich weniger dumm und inkompetent als noch vor ein paar Monaten. Es gibt vieles, was ich an meiner Arbeit schätze und doch ist es am Ende eben Arbeit. Arbeit, bei der man am Ende des Tages froh ist, wenn man die Tür hinter sich schließen kann.

Also schalte ich den Computer aus und schnappe mir Rucksack und Jacke. Mit dem Schlüssel in der Hand gehe ich zielstrebig Richtung Freiheit und schaue nicht zurück. Schließlich werde ich morgen schon wieder hier sein. Draußen vor dem Gebäude suche ich zwischen all den vielen geparkten Autos am Seitenrand nach einem Bekannten. Ein schriller Pfiff ertönt und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Jannis, lässig an seinem Auto lehnend, als gehöre ihm die Welt. Manche Dinge sollte er sich nicht von seinem großen Bruder abschauen. Das hier ist eines dieser Dinge. Eine Fassade aus Coolness. Als ich bei ihm ankomme, fällt die Fassade in sich zusammen und Jannis ist wie immer. Ein großes Strahlen im Gesicht und eine kräftige Umarmung mit Herz. Viel Herz. "Hi", begrüße ich ihn lächelnd. "Und danke für den Chauffeurservice." Als müsste Jannis etwas beweisen, nimmt er mir den Rucksack ab und öffnet die Beifahrertür für mich. Lachend schüttele ich den Kopf und lasse mich auf den Sitz plumpsen. "Wenn du schon so anfängst, hätte ich dann gerne auch einen gekühlten Sekt." Am besten mit gefrorenen Waldbeeren und irgendeinem Saft. Irgendwas, das den Sekt-Geschmack aus dem Sekt treibt und ihn durch einen Saftschorlen-Geschmack ersetzt. "Willst du das Spiel noch erleben, oder nicht?" Ich seufze theatralisch. "Ja, ja. Dann eben keinen Sekt für mich." Jannis grinst mich an. "Dafür bekommst du aber einen Döner", sagt er und schließt die Tür. Ehrlich gesagt ist mir ein Döner sogar lieber als Sekt. Und weil man mit Julian, dem Ernährungsstreber keinen essen kann, ohne dass er einem den Appetit versaut, gehe ich eben mit Jannis zünftig Döner essen. Unser Ritual, der Spieltagsdöner. "Was sagt die Liste?", fragt Jannis, der inzwischen auf dem Fahrersitz Platz genommen hat. Ich öffne die Notiz App auf meinem Handy und scrolle mich durch besagte Liste. Die Döner-in-Dortmund-Liste aka DöDo-Liste. Darauf befinden sich die Döner-Etablissements mit den besten Google-Bewertungen, die wir nun auf Herz und Nieren prüfen. Mit dem Blick eines Fotografen und dem Herz einer Sozialarbeiterin. Uns entgeht nichts. Weder skurril blinkende Deko noch der Frauenanteil unter den Angestellten. Im Gegensatz zur skurril blinkenden Deko sind Dönerfrauen eine echte Rarität. Ich tippe eine Adresse ins Navi ein und Jannis fährt los.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt