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Amina ~

Wie die letzten Tage waren?
Eine absolute Tortur.
Reine Seelenfolter.
Einfach richtig, richtig mies.

Anstatt von Julian zu erfahren, dass er nicht für den Lehrgang nominiert ist, habe ich verzweifelt die Pixel meines Handydisplays mit meinem ungläubigen Laserblick zum Zerspringen gebracht. Anstatt mit ihm darüber am Telefon zu sprechen, wurde ich mit einer Nachricht abgefertigt. Mit einer einzigen, verdammten Nachricht.
Es ist okay, ich trainiere einfach weiter.
Seitdem?
Stille.
Kalt und dunkel.
Eisige Mitternachts-Minusgradstille.

Vier Tage.
12 Nachrichten.
8 Anrufe.

Alle von mir. Nichts von ihm.
Null-Komma-Fucking-Nix.

Ich hasse das. Ich hasse, dass er mir das antut. Dass er es nicht schafft, mir zu sagen, wie zur Hölle es ihm wirklich geht. Aber ich hasse auch, dass er sich das antut. Mal wieder. Dass er wahrscheinlich mal wieder in seinem verdammt finsteren, modrig riechenden Schneckenhaus sitzt und die Hand vor Augen nicht sieht. Und diesmal scheint es so stockdunkel zu sein, wie in den tiefsten Tiefen des Mariannengraben.

Und weil ich nicht einfach so tun kann, als wäre mir seine eisige Mitternachts-Minusgradstille egal, sitze ich nun in einem Intercity der deutschen Bahn Richtung Köln mit Halt in Dortmund.
Völlig ungeplant.
Völlig unabgesprochen.
Völlig unsicher.

Die letzten Tage waren ein beständiges Hin und Her.
Soll ich fahren?
Kann ich nicht fahren?
Was, wenn er einfach Ruhe braucht, um den Kopf wieder freizubekommen?
Was, wenn sein Schweigen ein stummer Ruf nach Hilfe ist?
Was, wenn bloß mal wieder mein Helfersyndrom kickt?

Fragen, Gedanken, Vermutungen, Gefühle, Vermutungen, Fragen.
Grübelei in der Endlosschleife.
Jede Ecke meines Hirns in Bewegung.
Jeder Zentimeter meines Herzens bleischwer.
Jede Faser meines Körpers unter Anspannung.
In meinem Bauch rumort es, als würde gerade eine ganze Horde Ameisen direkt unter meiner Bauchdecke ihr Nest bauen. Einen riesigen Hügel zwischen Dünndarm und Dickdarm. Ein Gewusel, ein Durcheinander, ein Chaos. Soweit das Auge reicht.
Hirn-Chaos, Herz-Chaos, Körper-Chaos.

Einzig das gleichbleibende Rattern des Zuges hält mich davon ab durchzudrehen und mich dem Chaos hinzugeben. Stumm schaue ich aus dem Fenster und lasse die Welt scheinbar unbeteiligt an mir vorbeiziehen.
Hügel, Felder, Wälder, Häuser, Himmel. Alles so ruhig. Alles so beständig. Das Gegenteil meines Innern. In meinem Inneren herrscht Alarmstufe rot. Das Rot schreit. Warnt. Blinkt. Draußen hingegen verschwimmt alles irgendwie zu einer einheitlichen Masse. Wird zu einem einzigen grünlich-braun-grauen Fleck. Ein ruhiges Farben-Chaos.
Mal ist das Grün vorherrschend. Mal das Braun.

Irgendwann setzt Nieselregen ein und Grau breitet sich aus. Hinterlässt dünne Fäden auf der großen Fensterscheibe, die wie lauter Ausrufezeichen aussehen. Vielleicht eine Warnung vor dem, was darauffolgt. Nach und nach verschluckt das Grau alle anderen Farben, bis es nur noch eine gibt.
Grau.
Düster und deprimierend.
Eine Farbe, die sich hinter allen anderen versteckt.
Die einzelnen Ausrufezeichen werden zu einer schwimmenden, trommelnden Masse an Wasser. Wind gleitet den weichen Konturen des Zuges entlang. Bleibt pfeifend an jeder noch so kleinen Kante hängen.

In einem Zug zu sitzen ist ein bisschen, wie in einer Schutzblase zu leben. Alles prasselt auf dich ein und prallt dennoch irgendwie ab, ohne dich wirklich zu berühren. Alles trifft dich, doch nichts bleibt haften.
Wie ich mir eine solche Schutzblase gerade wünschen würde.
Für meine Seele.
Eine Seelenschutzblase.

Nach fünf quälenden Stunden komme ich endlich im verregnet grauen Dortmund an. Ohne Schutzblase, dafür mit einem Regenschirm bewaffnet. Quetsche mich in eine volle U-Bahn mit beschlagenen Scheiben und tropfenden Jackenzipfeln. Zehn Minuten später steige ich wieder aus. Spanne meine Waffe auf und bekomme dennoch bei jedem Schritt den ekelhaft feuchten Staub umherwirbelnder Wassertopfen ab.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt