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Ein paar Monate später

Amina ~

Ene, mene, miste
Was rappelt in der Kiste
Ene, mene, meck
Und Du bist weg.

Grübelnd stehe ich vor unserem Bett und begutachte die darauf ausgebreitete Shirtauswahl für den morgigen Tag:
Ein edles, schwarzes Sondertrikot mit einer strahlend gelben 19 auf dem Rücken.
Ein gelbes Trainingsshirt mit einer kleinen, unauffälligen 19 vorne auf der Brust und einem Dutzend Autogramme verrückter BVB-Spieler.
Ein gelbes Heimtrikot, ebenfalls mit der Nummer 19, einem einzigen Autogramm, sowie einer extragroßen, herzerweichenden Widmung- Wehe, du vergisst mich!

Meine Optionen sind in etwa so grandios, wie der Anlass für meine Shirt-Grübelei. Es gibt Spiele, wichtige Spiele und alles entscheidende Spiele. Sogenannte Leben-oder-Sterben-Spiele. Und das morgige Spiel fällt definitiv in die letzte Kategorie. Es ist der letzte Spieltag der Bundesliga und damit die Wiederauflage des 34. Spieltages der Saison 2022/2023.

Morgen kann der BVB mit einem Sieg Meister werden.
Morgen kann sich Julian seinen Traum erfüllen.
Morgen kann die gesamte Stadt in schwarz-gelb beben.
Oder sie kann alles verlieren.
Erneut alles verlieren.

Doch daran denkt heute niemand. Selbst ich schiebe den Gedanken beiseite und konzentriere mich auf meine Trikots. Welches schreit wohl am meisten nach Meisterfeier? Eindeutig Option drei 'Wehe, du vergisst mich!'. Das wäre im Siegestaumel ja auch wirklich, wirklich bitter. Also falte ich die anderen beiden Trikots säuberlich wieder zusammen, um sie wieder in den Schrank zu legen. Ein Klopfen an der Tür hält mich davon ab. "Kannst reinkommen", werfe ich über die Schulter. Die Tür öffnet sich und ein seltsam dreinblickender Jannis steht an der Türschwelle, sein Handy in der Hand. Noch bevor ich darüber rätseln kann, was sein Gesichtsausdruck bedeutet, werde ich förmlich angeschrien. "Amina, warum zur Hölle gehst du nicht an dein verdammtes Handy?!" Es ist nicht Jannis, der mich anschreit. Vielmehr ist es das Handy in seiner Hand. Jannis streckt es inzwischen weit von sich. Vermutlich, um dem Gezeter auszuweichen. Der Glückliche. Mir hingegen kommt es damit immer näher, bis ich es schlussendlich in der Hand halte. Darauf sehe ich Marius. Beziehungsweise eine ziemlich verzweifelte Version seiner selbst. "Ich versuche dich seit einer halben Stunde zu erreichen!" Ungeduldig fährt Marius mit seiner Hand durch seine offenen Haare. "Was ist denn mit dir los? Ich habe das Handy bloß unten im Wohnzimmer liegen." Mein Blick schweift fragend zu Jannis, der unschlüssig am Türrahmen lehnt. Als sich unsere Blicke treffen, zuckt er mit den Schultern. Keine Ahnung, ob er wirklich nichts weiß. Sein Gesicht scheint zumindest etwas zu ahnen. "Wir müssen dringend reden." Darauf wäre ich sogar noch selbst gestoßen. "Es geht um Jule." Oh. In mir versteift sich etwas. "Was ist passiert?" Meine Stimme klingt plötzlich leiser als zuvor. Szenarien huschen von Synapse zu Synapse in meinem Gehirn. Was, wenn er sich verletzt hat? Was, wenn er morgen nicht spielen kann? Fuck, das würde ihn umbringen. "Jule ist passiert", seufzt Marius kryptisch. Viel zu kryptisch. "Ey, Wolf, jetzt sag mir was los ist!" Mein Herz fängt an zu rasen. "Du hast mir mal von diesem Modus erzählt, in den er fällt, wenn alles ein bisschen viel ist. Du weißt schon, wo er ziemlich konzentriert und ernst wirkt, in der Realität aber einfach nur krass angespannt ist. Wo er.-" Hektisch falle ich ihm ins Wort. "Das Schneckenhaus. Ja, verdammt, was willst du mir damit sagen?!" Marius schluckt. "Ich glaube, dass er da gerade drin sitzt. Und ich mache mir Sorgen. Ernsthafte Sorgen." Oh Nein, bitte nicht. Nicht das. Nicht jetzt. Zeige- und Mittelfinger beginnen unruhig auf meine Stirn zu klopfen. "Was...wie...ist er drauf?", frage ich zögerlich. "Ziemlich schweigsam. Nicht ein Witz. Starrer Gesichtsausdruck. Ungewöhnlich viele und vor allem einfache Fehler beim Training." Das Klopfen auf meiner Stirn wird lauter. "Okay...vielleicht kann ich ihn nachher beruhigen, wenn wir telefonieren..." Der Optimismus in meiner eigenen Stimme überrascht mich ein wenig. Marius schweigt für einen Augenblick, dann schüttelt er den Kopf. "Ich weiß nicht...Vorhin habe ich ihn ein bisschen provoziert, weil ich dachte, das rüttelt etwas frei, aber da kam nichts. Null. Er hat nicht mal mit den Augen gerollt...Da weiß ich nicht, wie du nachher mit ihm reden willst...Oder redet ihr etwa gar nicht?" Für einen Moment ist Marius wieder der Alte. Völlig unmöglich und unpassend. Anzüglich tanzen seine Augenbrauen Tango. Von der Zimmertür kommt ein leises Lachen, das ich mit einem Blick zum Schweigen bringe. Marius ignoriere ich einfach. Alles andere pusht ihn nur unnötig. "Solange er mich nicht ignoriert, geht das vermutlich schon. Bisher war er zu mir ja normal. Vielleicht liegt es nämlich auch an dir, Wolf. An dir und deinem Nervensägen-Talent." Die kleine Spitze kann ich mir nicht verkneifen. "Diesmal verwette ich meine Haare, dass es nicht persönlich ist. Hast du mit ihm heute geschrieben?" Ich zucke mit den Schultern. "Ich war arbeiten, Marius. Da war ich anderweitig beschäftigt. Und seit ich daheim bin, habe ich nicht nochmal nachgeschaut." Marius schaut mich mit diesem Gesichtsausdruck an, der sagt, 'Worauf wartest du noch!?'. "Ich schau nachher gleich. Mein Handy liegt unten", beteuere ich. Marius vergräbt seufzend den Kopf hinter seinen Händen. "Ich gehe es holen. Wo liegt es?", schaltet sich Jannis ein. Ich verzichte auf den Protest, weil mir ohnehin klar ist, dass er zwecklos ist. "Kücheninsel...Danke, Jannis." Nickend verschwindet Jannis aus dem Zimmer. Marius und ich bleiben schweigend zurück. Ich hatte keine Ahnung, dass Marius so sein kann. Er scheint sich wirklich ernsthafte Gedanken zu machen. Das allein beunruhigt mich ungemein. Ein paar Augenblicke später betritt Jannis mit meinem Handy in der Hand wieder das Schlafzimmer. Darauf überfliege ich meine Benachrichtigungen. Eine Email von DHL zu meinem XXL-Paket Wasserbomben. Eine Erinnerung meines Kalenders für den morgigen Tag, mit dem Titel 'Meisterfeier!!!', die Julian selbst vor zwei Wochen ein wenig euphorisch in mein Handy getippt hat. Vielleicht ein wenig zu euphorisch, denn da ist auch noch eine WhatsApp-Nachricht. Von Julian. Mit dem Wortlaut: Lass uns heute Abend mal nicht telefonieren, okay? Ich will meinen Fokus nicht verlieren. Mir geht's aber gut, mach dir keine Sorgen. Dahinter ein fröhlicher Kuss-Emoji. Meine Stirn legt sich in Falten, während ich die Nachricht hoch und runter lese. Vorwärts und Rückwärts. Würde ich ihn nicht kennen, dann wäre ich mit dieser Nachricht beruhigt. Dann würde ich das denken, was alle denken.

Zwischen zwei Welten // Julian BrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt