Gewissensbisse

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Nicole

Ich hatte die halbe Nacht kein Auge zugemacht. Viel zu sehr kreisten meine Gedanken über die Erkenntnis des gestrigen Abends. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf, weshalb mein Freund nicht eine Sekunde ehrlich zu mir war. Er hatte diese Beziehung von Anfang an auf einer Lüge aufgebaut und diese Einsicht tat mehr als weh. Als ich heute Morgen aufgestanden war, hatte er zum Glück noch geschlafen und ich hatte Luca schnell sein Frühstück gemacht und zugesehen, dass ich ihn in den Kindergarten brachte. Ich wollte Marco beim besten Willen nicht über den Weg laufen. Dazu war ich einfach noch viel zu aufgewühlt gewesen. Ich wusste auch noch immer nicht wie ich es geschafft hatte, das Modell heile in unseren Besprechungsraum zu bringen. Doch ich hatte einfach funktioniert und versuchte nun mich auf das Geschehen um mich herum zu konzentrieren. Allerdings blieb es bisher einzig und allein beim Versuch, denn dieses Unwohlsein breitete sich immer weiter in mir aus. Mein Herz zog sich allein bei dem Gedanken an diesen Betrug von Marco schmerzhaft zusammen. Und ja, es war für mich definitiv ein Betrug. Mein steinreicher Freund zahlte seit Beginn unserer Beziehung das Internat für meine schwierige Schwester und hielt es nicht eine Sekunde lang für nötig mich darüber aufzuklären. Das wollte einfach nicht in meinen Kopf hinein und ich schnappte mir mein Wasserglas, um den Kloß in meinem Hals hinunter zu spülen. Ich durfte hier jetzt nicht auch noch anfangen zu heulen. Das hatte ich mir die ganze Nacht verkniffen, da ich nicht weiter mit Marco diskutieren wollte, also konnte ich mich wohl auch jetzt noch für diesen Moment zusammenreißen. Ich konnte den fragenden Blick meines Chefs deutlich auf mir spüren und versuchte ihm mit einem möglichst überzeugenden Lächeln zu verstehen zu geben, dass alles in Ordnung war.

Das klappte allerdings nur so lange, bis meine Gedanken erneut abschweiften. Dieses Mal zu Luisa, die mir gestern gerade noch gefehlt hatte. Natürlich hatte ich sie irgendwie vermisst und für Luca war es auch mehr als schön, dass seine geliebte Schwester sich an seinem Geburtstag blicken ließ. Doch ich kam nicht so recht damit klar, dass sie auf einmal vor Marcos Haustür stand. Und auch, wenn sie mir zusicherte, dass sie das Einverständnis ihres Therapeuten hatte, so konnte ich mir dennoch nicht vorstellen, dass sie das Internat einfach so verlassen durfte. Schließlich hatten wir ein ganz striktes Kontaktverbot gehabt und das würde man mit Sicherheit auch nicht einfach so aufheben. Was mich jedoch noch viel mehr beschäftigte war die Tatsache, dass sie noch immer so frech und vorlaut war wie vorher. Eigentlich hatte ich gedacht, dass die Therapie bereits erste Erfolge zeigen würde, doch es erschien mir nicht so, als hätte sich an ihrem Verhalten irgendetwas geändert. Ihr Blick, als sie mir erzählte, dass Marco das Internat bezahlte, war noch immer so wie vor einigen Wochen gewesen. Diesen Blick hatte sie immer nur dann drauf, wenn es um meinen Freund ging und ich könnte mich noch immer selbst dafür ohrfeigen, dass ich tatsächlich angenommen hatte, die Entfernung würde es sie irgendwann akzeptieren lassen. Denn so war es mit ziemlich großer Sicherheit nicht.

Mein Blick glitt langsam durch den Raum und blieb schließlich an meinem Chef hängen, der gerade mit großer Begeisterung „sein" Modell vorstellte. Sofort schossen mir Marcos spitze Bemerkungen über meinen Vorgesetzten in den Kopf und ich biss mir leicht auf die Unterlippe, während ich den Vorabend Revue passieren ließ. Es war gestern nicht das erste Mal gewesen, dass mein Freund mir weismachen wollte, dass mein Chef anderweitig an mir interessiert war. Und in diesem Punkt akzeptierte er auch keine Ausreden für das besonders freundliche Auftreten von Herrn Bauer. Marco hasste diesen Mann und bei jedem Sonntag, den ich für irgendeinen extra Auftrag ins Büro kommen musste, wusste ich, dass mein Freund alles andere als entspannt auf dem Sofa saß. Stattdessen überlegte er sich vermutlich, wie er meinem Chef am besten deutlich machen konnte zu wem ich gehöre. Ich selbst fand das vollkommen schwachsinnig, denn für mich gab es nur Marco. Auch wenn ich in den letzten Stunden mehrmals darüber nachgedacht hatte wieder in meine Wohnung zurück zu ziehen mit Luca. Vielleicht würde uns ein wenig Abstand doch gut tun. Denn ich wusste nicht, wie ein Aufeinandertreffen von uns beiden aussehen sollte. Ich war noch immer so wütend und enttäuscht zugleich, dass es eigentlich gar nicht gut gehen konnte. Aber zurück in meine Wohnung zu gehen war genauso eine schlechte Idee, denn dort befand sich Luisa, die ich genau so wenig sehen wollte wie meinen Freund. Ich war gefangen in meinem Gedankenkarussell und bemerkte erst gar nicht wie Bauer das Meeting beendete. Erst als er mich freundlich daran erinnerte, dass ich nun Feierabend machen könne, erhob ich mich schwerfällig und schulterte meine Tasche, um mich auf den Weg zum Auto zu machen.

Mein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Marco gerade zum Mittagessen zuhause sein musste weshalb ich es vorzog meinen kleinen Bruder vom Kindergarten abzuholen und mit ihm durch die Stadt zu bummeln. Wir genossen unseren gemeinsamen Tag mit shoppen und bevor wir uns auf den Nachhauseweg machten, gönnten wir uns noch ein Eis bei unserem Stammitaliener. Natürlich versuchte ich hier bloß, ein Aufeinandertreffen mit Marco so lange es eben ging hinauszuzögern, doch mir war klar, dass ich das nicht ewig so durchziehen konnte. Ich musste mit ihm reden, wenn ich Klarheit in dieser Sache haben wollte und so entschied ich mich dazu, doch zu ihm zurück zu fahren und erneut das Gespräch mit ihm zu suchen. Vielleicht würde es ja doch besser verlaufen als das gestrige. Während Luca sich also in sein Zimmer verzog um zu spielen, machte ich mich daran Marcos Lieblingsessen zu kochen. Vielleicht hatte ich das alles doch irgendwie falsch verstanden und Marco hatte eine gute Erklärung für sein Handeln. Zumindest hoffte ich das, denn wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann musste ich mir doch eingestehen, dass ich einfach nicht ohne ihn sein wollte. Er bedeutete mir so viel und ich bekam sogar einige kleine Gewissensbisse, dass ich ihn so für seine Hilfe für mich verurteilte. Marco hatte es vermutlich nur gut gemeint und ich musste ihn deswegen mal wieder so anzicken. Das war vielleicht doch nicht so angebracht gewesen, wie ich gestern noch gedacht hatte.

Ich hatte gerade die Soße für das Fleisch fertig, als es mit einem Mal an der Tür klingelte Mein Blick glitt prüfend zur Uhr am Backofen und ich runzelte leicht die Stirn, als ich realisierte wie spät es schon war. Normalerweise war Marco um diese Uhrzeit schon zuhause und eigentlich klingelte er auch nicht, wenn er kam. Warum auch, er hatte ja schließlich einen Schlüssel für sein Haus. Ich stellte die Herdplatte aus und wischte mir die Hände an dem Geschirrtuch ab, bevor ich mich auf den Weg zur Tür machte. Doch kaum, dass ich sie geöffnet hatte, entglitten mir auch schon meine Gesichtszüge. Vor mir stand niemand anders als mein Exfreund Jason, der mich breit grinsend begrüßte. Seine Arme schlangen sich wie selbstverständlich um meinen Körper und ich spannte mich augenblicklich an. Ich wusste gar nicht so recht, wie mir geschah, denn ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern ihn darüber aufgeklärt zu haben wo ich nun wohnte. Wir hatten seit unserer Trennung keinen Kontakt mehr gehabt und eigentlich wollte ich das auch so beibehalten. Doch Jason schien das anders zu sehen, denn trotz meiner Regungslosigkeit drückte er mich fest an sich und dachte gar nicht daran mich loszulassen. Von weiter weg vernahm ich das Brummen eines Sportwagens und wenig später hörte ich wie ein Auto unsere Auffahrt entlang fuhr. Doch so schnell, wie Marco aus seinem Wagen gesprungen und in Richtung Haustür gekommen war, konnte ich den Mann, der sich mir so um den Hals warf, gar nicht von mir weg drücken.

Ich, meine Schwester und Marco II Eiskalte RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt