Ein letzter Versuch

680 38 8
                                    

Nicole

Marco löste sich aus der Umarmung, gab mir einen leichten Kuss auf meine Stirn und flüsterte, „ich ruf dann jetzt mal die Polizei. Es tut mir leid". Seine Stimme zitterte und ich war mir sicher, dass es nicht einfach nur die Wut war, die da mitschwang, sondern das tiefe Bedauern. Ich senkte meinen Blick, denn ich wusste er hatte Recht und dennoch war ich Luisas Schwester. Wir waren aus dem gleichen Fleisch und Blut und ich wollte ihr niemals etwas Böses. Sie tat mir leid. Sie war noch so jung, als unsere Eltern starben und konnte doch überhaupt nicht begreifen, dass in der wichtigsten Phase ihres Lebens keine Mutter mehr da war, die ihr helfen konnte eine Frau zu werden. Ich tat zwar mein bestes und noch mehr, jedoch war ich eben immer nur die Schwester und keine Mutter. Niemals würde ich diesen Status bei ihr erlangen, dessen war ich mir auch bewusst, nur dass es solche Ausmaße annehmen würde, konnte sicher vor 6 Jahren keiner für möglich halten und wenn doch, hatte es keiner für nötig gehalten mir dies zu sagen. Ich hatte sie verloren, ich wusste zwar nicht mehr wann oder wo, aber es war so und darum war ich einfach der falsche Ersatz. Jede Mutter, ganz besonders unsere Mutter, hätte es mitbekommen. Fern ab hörte ich Marco mit jemanden reden und vermutete das er in Küche zum Telefonieren war, oder zu mindestens im Wohnzimmer. Ich stand immer noch hinter der Tür, hatte meine Arme fest um mich selbst geschlungen und hörte das Wimmern von Luisa. Ich starrte auf das Holz und versuchte durch einen inneren Dialog meine nächsten Schritte zu bedenken. Ich konnte meine kleine Schwester nicht einfach so blind jetzt in ihr Verderben rennen lassen, selbst wenn sie es verdient hatte. Wie würde sie abgehen, wenn sie auf einmal von hinten gepackt werden würde, auf den Boden gedrückt wird, um dann in Handschellen abgeführt zu werden? Ich biss mir kräftig auf die Unterlippe. Nein, das durfte auf keinen Fall so ablaufen! Ich merkte, wie sich ein Zippel in meinem Bauch anfüllte mit Wut. Unerklärliche Wut auf die Polizei, die so mit meiner Schwester umgehen könnte. Hypothetische Vorstellungen ohne jemals selbst solche Erfahrungen gemacht zu haben, war auf einmal der Freund und Helfer zum Feindbild erklärt und ich legte entschlossen meine Hand auf die Türklinke. Genau in dem Moment wurde es ruhig draußen und ich ahnte schon das schlimmste. Schnell, jedoch auch leise, machte ich dir Tür auf und stellte erleichtert fest, dass weit und breit kein Blaulicht zu sehen war und Luisa zusammen gesunken auf der niedrigen Treppenstufe vor der Tür saß. Langsam und etwas zögerlich stellte ich mich erst neben sie, ging dann in die Hocke, um mich schlussendlich neben sie zu setzten. Ich zog meine Knie an, umschlang sie mit meinen Armen und legte mein Kinn auf. Unschlüssig was ich sagen sollte, kniff ich mit meinen Zähnen auf der Unterlippe herum. Ich hatte keine Ahnung wie viel Zeit mir noch blieb. Wie schnell würde wohl die Polizei sein, wenn ein Marco Reus sie rief? Lebhaft konnte ich mir es mir irgendwie vorstellen und ein Schmunzeln ging zwangsläufig über mein Gesicht. Bestimmt würden sie mit 10 Mannschaftsbussen, Hundestaffel, SEK und Hubschrauber ankommen und alles für einen durchgeknallten Teenager. Ich warf einen Seitenblick auf Luisa und seufzte innerlich. Es blieb dabei, ich wusste nicht wie viel Zeit ich noch hatte und welcher Zirkus angetanzt kam, also hieß es -jetzt oder nie-. „Ich würde gerne in deinem Kopf stecken, um dich zu verstehen"-„lass mich in Ruhe. Du hast alles kaputt gemacht" nuschelte meine Schwester in ihren Schoß und sie hörte sich dabei an, als wäre sie extrem verschnupft. „Du hast es dir selbst kaputt gemacht. Wie konntest du Marco nur in solch eine gefährliche Situation bringen. Ist dir nicht klar, was alles hätte passieren können und was für ihn auf dem Spiel steht? Du bist minderjährig, und da ist es ganz egal, wie erwachsen du dich fühlst. Du bist es. Da führt kein Weg dran vorbei"-„er gehört mir und du hast ihn mir weggenommen" sie hörte sich an, als wäre sie wieder fünf und wäre mit mir um irgendwas am Streiten. „Luisa, das habe ich nicht. Ich weiß, deine Gefühle sind verletzt und das tut mir unendlich leid"-„ach als würde dir das leidtun. Du bist doch so eine Heuchlerin" resigniert stöhnte ich auf. „Ich wüsste nicht was daran geheuchelt ist. Luisa ich habe mir da keine ernsthaften Gedanken drum gemacht, weil ich dachte, dir wäre es klar, also das es zwischen dir und Marco niemals etwas geben wird. Darum ist es für mich kein Fehler"-„für dich ist ja nie etwas ein Fehler, ich sag ja, nach dem Mama und Papa gestorben sind hast du ja auch alles an dich gerissen". Es tat unglaublich weh sie so reden zu hören und ich sah in die Ferne. Keine Ahnung wie sie auf all diesen Blödsinn kam und doch wollte ich nicht die Geduld mit ihr verlieren, denn ich war mir sicher, es würde alles nur schlimmer machen. „Ich weiß nicht warum du so geworden bist. Ich weiß nur, dass ich dir niemals etwas Böses wollte. Als der Anruf mich damals aus dem Unterricht geholt hat, wusste ich von jetzt auf gleich nichts mehr. Mein Kopf war leer und ich machte mir keine Gedanken mehr um meine Zukunft. Es war für mich nicht weniger überraschend wie für dich, mit dem Unterschied, das ich Verantwortung übernehmen musste für ein kleines Kind und ein Baby. Du willst mir also Vorwürfe machen? Das ist nicht fair! Ich habe fünf Jahre alles getan für dich und Luca. Ich war für euch Mutter und Vater und das ohne lang nachzudenken. Es war einfach meine Pflicht. Natürlich hab ich nicht alles richtig gemacht, wie auch? Ich war noch keine Mutter. Tausendmal habe ich den Tag verflucht, als wir plötzlich alleine waren. Habe mir überlegt, was ich hätte ändern können, wäre ich zu Hause gewesen und nicht in der Uni. Noch heute Zweifel ich an so vielem und dein Benehmen macht es mir da wirklich nicht leichter. Ich renne ständig auf den Friedhof und hoffe dort Antworten zu finden was ich besser machen könnte. Wie ich mit dir umgehen soll. Was ich tun kann, damit du wieder das liebe Mädchen wirst, welches du warst. Du hast dich so verändert und selbst wenn ich an meine Teenagerzeit zurück dachte, musste ich feststellen, wir sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Wie hätte ich dir also helfen können? Ich habe keine Ahnung Luisa, ich weiß nur. Ich liebe Marco, wir sind ein Paar und du musst das irgendwie akzeptieren. Da hilft es dann auch nicht, wenn du mir solche Vorwürfe machst, die überhaupt nicht stimmen. Ich habe mein ganzes Leben, meine ganze Zukunft dir geopfert und du bist so undankbar"-„bist du jetzt endlich fertig?" Luisa hob endlich ihren Kopf und keifte ihre Worte mir entgegen. Ihr Blick spiegelte nichts wieder. Es war einfach nur Leere zu sehen und das sie geweint hatte. Warum kam ich überhaupt nicht mehr an sie ran? Hatte am Ende Marco doch recht und ihr war einfach nicht mehr zu helfen? Mussten da so richtige Profis dran und selbst die in der Schule waren da die falschen? Die Zweifel nagten nur noch mehr an mir, als würden sie es nicht schon genug. Ich raufte mir die Haare und suchte nach neuen Ansätzen, mit denen ich es noch einmal versuchen konnte an sie ran zu kommen. Hinter uns ging die Türe auf und wir drehten beide den Kopf. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, dass meine Zeit abgelaufen war und Marco nur hier stand, um zuschauen ob meine Schwester noch da war. Um sicher zu gehen, dass er die Polizei nicht umsonst gerufen hatte. Mit einer unglaublichen Ruhe fragt er dann „du bist noch da?" und Luisa nickte nur. „Gut. Vielleicht ist das auch gar nicht so falsch. Ich habe in deiner Schule angerufen. Ich habe auch etwas länger mit Herrn Kaspers gesprochen und dabei erfahren, dass du zwar beurlaubt wurdest, aber eigentlich nur für den Geburtstag von Luca. Nicht mehr und nicht weniger. Er wollte aber so oder so mit uns Kontakt aufnehmen, denn er findet, dass du in der Schule nicht gut genug aufgehoben bist. Er glaubt, eine andere Einrichtung wäre besser für dich. Ich habe im Übrigen die Polizei gerufen, die werden gleich hier sein und dich dann in ein Krankenhaus bringen, welches Herr Kaspers empfohlen hat und er wird morgen herkommen, um mit dir und auch mit uns zu sprechen. Ich denke das ist für uns alle ..."-„was? Stopp! Halt! Du hast was? Die Polizei angerufen. Den Kasper angerufen. Die halbe Welt angerufen? Vielleicht auch noch den Papst? Was bist du nur für ein Arschloch?" sie sprang auf, stemmte die Hände in ihre Hüfte und sah Marco giftig an. „Ich bin ein Arschloch was dir helfen will. So kann das nicht weiter gehen und gesund kann das auch nicht sein. Du bist doch überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig"-„bitte? Du hast mir gerade erklärt, dass du mich in eine Klapse stecken willst. So weit bin ich dann doch noch bei Verstand. Erst werde ich in ein Internat gesteckt und jetzt in die Irrenanstalt? Tickst du noch richtig?". Deutlich konnte ich das fiese Grinsen sehen, welches Marcos Mundwinkel umspielte. Ich konnte es verstehen, fand es aber gerade sehr unpassend, trieb es Luisa nur noch mehr an in eine Angriffsstellung überzugehen. „Ich ticke besser wie du. In meinem Oberstübchen stehen ja auch noch alle Möbel. Bei dir wurde da ja ordentlich Chaos verbreitet. Darum kommst du nur auf scheiß Ideen" nun stand ich auf und versuchte Marcos Blick zu suchen. Er war gerade dabei sich in Rage zu bringen und dies würde keinen von uns weiter bringen. „Du glaubst also, ich würde jetzt hier sitzen bleiben und darauf warten, dass man mich in die Gummizelle abführt oder was?" Marco sagte kein Ton mehr, er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte nur. Luisas Haltung änderte sich aber leider nicht. Wild klopfte sie sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und fing an zu brüllen. Ihre Stimme überschlug sich teilweise so sehr, dass man kein Wort mehr verstehen konnte und es war wie pures Gift und Galle rauswürgen. Sie schloss dann irgendwann mit den Worten ab „ihr habt sie doch nicht mehr alle" und rannte los. Sie raufte sich dabei dir Haare und brüllte immer wieder neue Flüche, bei denen sie sich zu uns umkehrte. „Wir können sie jetzt nicht gehen lassen" kaum hatte Marco das gesagt, sprintete er ihr auch schon hinterher. Direkt ging bei mir der Alarm an und ich rannte genauso los. Am Gartenzauntor hatte ich es tatsächlich geschafft mit Marco auf gleicher Höhe zu sein, aber nur weil er offensichtlich ein Problem mit dem Schloss hatte. Luisa hatte es so sehr in die Angel knallen lassen, dass es sich leicht verkeilt hatte. Marco drückte, zog und trat gleichzeitig mit dem Fuß davor, schon standen wir auf dem Gehweg und ich rannte blindlinks meiner Schwester nach. „Luisa, bitte bleib hier. Lass uns nochmal reden!" rief ich ihr nach und sie drehte sich tatsächlich um. Jedoch blieb sie nicht stehen und ging weiter rückwärts. Dann ging auf einmal alles ganz schnell.

Ich, meine Schwester und Marco II Eiskalte RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt