Spinnenbein

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Viele Tage marschieren wir, immer dem Pfad folgend, aber der Wald scheint endlos zu sein. Mit jedem neuen Sonnenaufgang fühlt es sich dumpfer in meinem Kopf an, so als ob ein undurchdringlicher Nebel darin herrscht. Zudem stellt sich langsam ein weiteres Problem ein: Wir haben zwar etliches an Proviant von Beorn mit auf den Weg bekommen und eigentlich auch genügend Wasser, konnten aber anscheinend alle die Undurchdringlichkeit des Waldes nicht gut genug einschätzen. Nach fast einem Monat sind unsere Vorräte aufgebraucht. Nur noch einige Krümel lassen sich mit Müh und Not auf dem Grund unserer Rucksäcke finden.

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, denn in meinem Wasserbeutel ist ebenfalls nicht mehr genügend, um den quälenden Hunger wenigsten ein bisschen zu stillen. Durch die Nahrungsknappheit müssen wir öfter Rasten und kommen dadurch noch langsamer voran. In den Gesichtern meiner Gefährten kann ich die mit jedem neuen Tag anwachsende Mutlosigkeit und Verzweiflung sehen.

„Endet dieser verfluchte Wald denn niemals?!", brüllt Dwalin plötzlich unser aller Gedanken aus und schmettert seine Axt gegen den Stamm einer alten Eiche, die daraufhin bedrohlich zittert. Ächzend senken sich ihre knochigen Äste zu uns herab, beinahe so, als ob die Verletzung ihr schmerzt und sie uns vor weiteren Angriffen warnen möchte. „Deshalb muss du ihn aber nicht gleich reizen!", schimpft Balin aufgebracht und legt seine Hand zügelnd auf den Schaft der Axt. „Wen ich verärgere, ist noch immer meine Sache!", knurrt er ihn daraufhin wutentbrannt an und augenblicklich entsteht ein Streit zwischen den Zwergen, angeheizt von Hunger, Hoffnungslosigkeit und dieser verdammten Dumpfheit, hervorgerufen durch die anhaltende Stille, Finsternis und Einsamkeit. Ich versuche verzweifelt und trotz dem schmerzenden Dröhnen in meinem Kopf die Zwerge zu beruhigen, muss mich aber bereits kurze Zeit später erschöpft an einem Baum abstützen. Irgendetwas muss geschehen ... Langsam blicke ich den Stamm hinauf und sehe durch die dichten Blätter hindurch ein kleines Stückchen blauen Himmel, dass die dicken Nebelschwaden, die meinen Geist gefangen halten, wenigstens vereinzelt zu vertreiben vermag und sofort kann ich klarer denken. „Vielleicht kann man von dem Wipfel eines Baumes aus die Grenzen des Waldes bereits sehen", murmle ich tonlos. Vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderem auf die knochigen Äste, die mich immer weiter in Richtung Krone bringen, bis ich schließlich durch das Blätterdach hindurchstoßen kann.

Augenblicklich empfängt mich die klare, frische Luft und eine gleißende Helligkeit, die ich so sehr vermisst habe, mich aber unvermittelt dazu zwingt, die schmerzenden Augen zu schließen. Erst nachdem ich mich an die strahlende Sonne gewöhnt habe, kann ich sie wieder öffnen und muss angesichts des Anblicks, der sich mir überraschend bietet, beeindruckt den Atem anhalten. Um mich herum sehe ich die Wipfel der Bäume und in nicht allzu weiter Ferne einen glitzernden See, auf ihm eine ringförmig angelegte Stadt und im Hintergrund einen steil aufragenden Berg, dessen Gipfel durch dichte Wolken im Verborgenen liegt. Es ist so ein idyllischer Anblick, der ein extremes Gegenteil zu der bedrückenden Stimmung unterhalb der Blätter bildet. Wie verzaubert stehe ich einfach nur da und lasse das eintretende Hochgefühl auf mich wirken, tanke neue Kraft aus der Wärme der Sonne und der Frische der Luft. Ich spüre regelrecht, wie die gewonnene Energie durch mich hindurchfließt, sich mit jeder Vene und jeder Ader weiter wohlig erregend in meinem Inneren ausbreitet und jedwede bedrückende Stimmung und Gedankenfolge vertreibt.

Widerwillig und nachdem ich noch einmal tief die klare Luft in meine Lungen gezogen habe, trete ich schließlich den Abstieg an. Augenblicklich verschluckt mich wieder die bedrückende Dunkelheit, als ich meinen Kopf unter das Blätterdach stecke, aber sie kommt mir jetzt nicht mehr ganz so schrecklich vor. Von weit unten, dringt dumpf die Streiterei der Zwerge zu mir hinauf. Leichtfüßig wie seit Tagen nicht mehr und mit neuem Mut, springe ich von einem Ast zum anderen und gelange schließlich wieder zu ihnen. Anscheinend haben sie noch nicht einmal mitbekommen, dass ich weg war. Thorin steht resigniert neben seinem Gefolge und verfolgt schweigend die Auseinandersetzung ... zu ausgezehrt und hoffnungslos, um einzuschreiten. Ich zupfe am Fell seines Mantels, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen und er schaut mich augenblicklich mit glanzlosen Augen an. „Thorin ... ich habe ihn gesehen...", flüstere ich stockend, erschrocken über sein mutloses Gebaren, „... ich habe den Berg gesehen." Jäh erhellt sich sein Blick und er umfasst erregt meine Schultern. „Du hast was?!", fragt er mich aufgebracht und langsam ersterben die lauten Stimmen der Zwerge neben uns, als ihnen seine plötzliche Wesensänderung auffällt. „Ich bin auf einen Baum geklettert, um zu sehen, ob wir nicht schon näher am Ziel sind als wir denken", beginne ich meine Erläuterung. „Es sind vielleicht nur noch drei Tagesmärsche bis zum Waldrand." In seinen Augen entsteht ein hoffnungsvolles Leuchten. „Was hast du genau gesehen?", will er aufgewühlt von mir wissen. Ich lächle verträumt, als ich mir das eben gesehene Bild wieder in Erinnerung rufe. „Einen großen See, mit einer Stadt darauf und dahinter der einsame Berg ... sein Gipfel lag in den Wolken und seine steinernen Hänge haben in der untergehenden Sonne wie reines Silber gefunkelt ... Thorin ... er ist so wunderschön." Meine Stimme gleicht nur noch einem herzbewegten Flüstern, als ihm dank meiner Schilderung Tränen der Begeisterung in die Augen treten.

Die kleine HobbitfrauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt