Ein seltsames Quartier

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Von dem Felsen herunter führt ein ausgetretener Pfad mit vielen Stufen, die so hoch sind, dass die Zwerge und ich teilweise rückwärts von ihnen herunterklettern müssen. Unten rauscht der Fluss über spitze Steine brausend in Richtung Süden. Ich gehe wie immer als Letzte und gerade als ich mich an den mühevollen Abstieg der letzten Stufe machen will, umfassen zwei große Hände meine Taille und heben mich hinab. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen spüren kann, drehe ich mich überrascht um und sehe direkt in die sanften eisblauen Augen von Thorin. Ich bedanke mich artig bei ihm und schaue verlegen zur Seite, da sich schon wieder diese durchdringende Wärme in mein Dasein stielt. Dabei bleibt mein Blick jedoch an seinem linken Arm hängen, auf dem ich einen großen Blutfleck entdecke. „Thorin, du bist verletzt!", stoße ich erschrocken aus und möchte bereits besorgt nach dem blutverschmierten Stoff seines Ärmels greifen. Aber er dreht sich schnell von mir weg und läuft weiter, die Furt aus großen flachen Steinen, die zu einem grasbewachsenen Ufer führt, entlang. „Nur ein Kratzer", spielt er ausweichend seine Verletzung herunter. Ich eile ihm dennoch hastig und nicht ans Aufgeben denkend nach ... diese verdammte stolze Starrköpfigkeit der Zwerge ... und Thorin ist der Unbeugsamste von ihnen. „Lass mich die Wunde doch wenigstens ansehen!", sage ich ungewohnt ernst und meine eindringlichen Worte erreichen ihn tatsächlich. Er bleibt stehen und setzt sich nach einigen Augenblicken des Nachdenkens mit einem schnaubenden Laut der Einsicht auf einen Stein ... erleichtert knie ich mich vor ihn.

Vorsichtig löse ich die Schnallen seiner mit fast filigran wirkenden Zwergenrunen verzierten Armschiene und lege diese äußerst behutsam auf dem weichen Gras ab. Danach betrachte ich die Wunde genauer, indem ich sie von den blutgetränkten, zerfetzten Resten seines Hemdes befreie. Ich schlucke hart, als ich die fürchterlich aussehende Fleischwunde entdecke, die sehr tief zu gehen scheint und eindeutig von einem Wargzahn herrührt. Ich schaue Thorin tadelnd an, da er eine solche Verletzung unbehandelt lassen wollte „Nur ein Kratzer, ja?", werfe ich ihm kritisierend vor, ernte daraufhin nur ein resignierendes Achselzucken und atme erneut seine Starrköpfigkeit verfluchend schwer aus. Suchend blicke ich mich um und entdecke dann erleichtert eine kleine Ansammlung Kamillenblumen am Waldrand stehen. Begeistert darüber, pflücke ich einige der weißen Blüten und beginne sie sorgfältig zu zerkauen. Mein Weg führt mich wieder zu Thorin zurück und im Laufen zerreiße ich den Ärmel meiner Leinenbluse.

„Was tust du da?", fragt er mich überrascht, als ich mich wieder zu ihm knie, den klebrigen Brei aus Kamillenblüten auf dem Biss verteile und diesen straff mit dem Stoff umwickle. „Ich muss die Blutung stoppen und die Kamille ist, damit sich die Wunde nicht entzündet und besser heilt ... ich möchte nämlich nicht wissen, was in so einem Wargmaul alles drin ist", belehrte ich ihn, während ich mich weiter auf meine Aufgabe konzentriere. Mit einem Knoten wird der improvisierte Verband schließlich fixiert. „Du kannst doch nicht einfach so deine Kleidung zerreißen!", seine Empörung über meine Tat ist deutlich herauszuhören. „Hast du einen besseren Einfall? Mein Verbandszeug ist zusammen mit meinem Rucksack im Orkstollen zurückgeblieben", erinnere ich ihn an den Verlust unserer Sachen und lege ihm vorsichtig die Armschiene wieder an.

Zufrieden mit meiner Arbeit sehe ich zu ihm auf. Er betrachtet den Verband ausgiebig und streicht leicht mit den Fingern über den unschuldig weißen Stoff, der bereits leicht gerötet ist. Schließlich bringt er ein bedrücktes ‚Danke' über die Lippen, dass ihm sichtlich schwerfällt, da er es nicht gewohnt ist. Ich lächle trotzdem es annehmend und erhebe mich wieder. Der Symmetrie wegen trenne ich auch noch den anderen Ärmel ab und tauche ihn in das kühle Wasser des Flusses. Thorins neuerlich entrüstetes Mienenspiel absichtlich ignorierend, knie ich mich wieder vor ihm und lasse den feuchten Stoff über die Haut seines Gesichts gleiten. Sorgfältig versuche ich alle Spuren des harten Kampfes von den kantigen Zügen zu entfernen, die dennoch so anmutig auf mich wirken. Seine eisblauen Augen sind meinen so nah und tanzen unablässig über mein Angesicht. Ich spüre Thorins warmen, prickelnden Atem auf meiner Haut und versuche verzweifelt mich nur auf meine Tätigkeit zu zentralisieren ... aber es fällt mir so unermesslich schwer. Zärtlich fährt meine stoffumwickelte Hand über die blutbesudelte Stirn, die Schläfen entlang, entfleckt die mit Ruß und Schmutz entstellten Wangen und überzieht schließlich seinen Mund, der sich dabei leicht öffnet. Gebannt starre ich die kleine entstandene Spalte an und fast unbewusst beiße ich mich vor lauter Verlangen sie zu berühren, dass bei diesem Anblick in mir aufsteigt, auf meine Unterlippe. Thorin umklammert sofort mein Handgelenk, als ich mich langsam meiner unsittlichen Gedanken bewusst werdend, von ihm entfernen möchte. „Bil, ich ...", weiter kommt er nicht, denn Gandalf erinnert uns plötzlich tadelnd daran, nicht weiter zu trödeln.

Die kleine HobbitfrauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt