Schmerz und Glück - so nah und fern

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Es ist bereits zu dunkel, um den Abstieg zu wagen, also müssen wir die Nacht auf dem schmalen Sims verbringen. Unendlich enttäuscht und von den Strapazen der letzten Wochen und Monate gänzlich aufgezehrt, sind die Zwerge schnell in einen unruhigen Schlaf gefallen. Ich allerdings sitze mit an den kalten Felsen gelehnten Rücken und angezogenen Beinen einfach nur da und starre in die Dunkelheit der Nacht. Es muss bereits auf Mitternacht zugehen, wenn ich die Stille um mich herum und die Stellung des Mondes am klaren, sternenfunkelnden Himmel als Anhaltspunkt nehme ... eine der vielen Fähigkeiten, die ich mit der Hilfe meiner Freunde auf unserer Reise erlernt habe und auf die ich stolz bin.

Frustriert und unzufrieden mit unserer fehlgeschlagenen Mission, denke ich an die vielen Abenteuer, Gefahren und Kämpfe, die ich die letzten Monate erleben musste. Aber auch an die schönen Dinge ... wie der Aufenthalt in Bruchtal oder Beorns Garten ... die Freude und Herzlichkeit, mit der mich die Zwerge immer mehr in ihre Gemeinschaft einschlossen ... der harmonische Umgang, das Gelächter und die tiefsinnigen Gespräche ... die Zuversicht, die ich gefühlt habe, als Thorin mir für die Rettung seines Lebens endlich den so lange erhofften Respekt entgegengebrachte. Ich seufze leise bei dem Gedanken an ihn auf ... Thorin ... mein Blick gleitet zu ihm. Er schläft friedlos neben mir, abgekämpft und mutlos, das Licht des Mondes hat sich in seinen dunklen Haaren verfangen und lässt sie wie Onyx leuchten. Sein Gesicht schattiert selbst im Schlaf sorgenvoll und hoffnungslos, jeglicher Zuversicht und Lebensfreude beraubt. Und es schmerzt mein Herz unsäglich, ihn so zu sehen und dass die Tatsache keine andere ist ... dass ich ihm nicht Hilfe und Trost spenden kann, in diesen Stunden der absoluten Katastrophe. Er murmelt leise im Traum und vergräbt seine Finger plötzlich in dem Stückchen Stoff meines Mantels, der unweit von ihm liegt.

Ich seufze erneut ... noch nie wusste ich die Bedeutung von Heimat mehr zu schätzen, als nach dieser langen Reise. Es war bis dahin nur ein Wort und nicht mit irgendwelchen Gefühlen verbunden, vermutlich, weil ich nie wusste, wie es jemanden berühren kann, keine mehr zu haben. Ich kann in mein Heim zurückkehren ... wenn auch einsam und jeglichem Wärmegefühl beraubt ... aber die Zwerge, wohin sollen sie nun gehen ... All die Hoffnungen und Aussichten auf ein anderes Leben ... in einem Reich, dass durch einen ehrenvollen und mächtigen König regiert wird ... auf ein Zuhause ... sie sind unwiederbringlich verloren. Meine schwermütigen Gedanken treiben mir bereits die ersten stummen Tränen in die Augen und lassen den Anblick des Vollmondes am Himmel mir gegenüber verschwimmen. Mit blutendem Herzen schlage ich meine Hände vor dem Gesicht zusammen und unterdrücke den Drang, laut loszuweinen, denn noch nie war ich so verzweifelt und mutlos ...

Plötzlich höre ich ein ungewöhnliches Geräusch neben mir und als ich meinen Blick auf den Boden richte, sehe ich dort die Drossel, die mich mit ihrem Gesang auf der trostlosen Ebene überrascht hat. Ihre Flügel zucken erneut aufgeregt und sie springt ruhelos von einem kleinen Bein auf das andere, so als wolle sie unbedingt, dass ich ihre Aufmerksamkeit habe. Ich wische mir schniefend mit den Handrücken über die schmerzenden Augen um die klare Sicht zurückzuerlangen. Da hebt sie mit ihrem blassgelben Schnabel eine Eichel auf und beginnt mit dieser gegen die Felswand zu klopfen. Ein Dumpfes, weithin hallendes Geräusch entsteht augenblicklich ... „Wenn die Drossel schlägt", flüstere ich, als mir in diesem Moment wieder das Zitat der Karte einfällt. Und wie als würde er das Schlagen und meine Worte hören, beginnt sich augenblicklich das Licht des Mondes zu verändern. Einst kühl und glanzlos, wird es plötzlich warm und funkelt, als ob sich darin abertausende winzige gelbe Edelsteine materialisieren. Meine Hände in seinem Strahl beginnen fast magisch zu leuchten und scheinen unbeschreiblich energiereich zu werden. „Wacht auf!", rufe ich atemlos und im nächsten Moment stehen bereits alle Zwerge verwundert um mich herum. Ich sehe von meinen glühenden Händen zu Thorin auf. „Das letzte Himmelslicht des Durinstag ... es ist das Licht des Mondes ... nicht der Sonne...", stoße ich nach Atem ringend aus und stehe schnell auf, damit es ungehindert auf den kahlen Stein fallen kann.

Die kleine HobbitfrauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt