Die Seestadt

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Wenig später befinden wir uns zusammen mit den Fässern auf dem Kahn des Menschen und passieren die Mündung des Waldflusses in den langen See. Die Abenddämmerung setzt bereits ein und lässt die Luft fürchterlich kalt werden. Es ist bereits Ende September und obwohl Esgaroth nur wenig nördlicher liegt als das Auenland, haben sich bereits die ersten dicken Eisschollen auf der Oberfläche des Sees gebildet und schlagen geräuschvoll an den Rumpf des Bootes, als wir durch sie hindurch fahren. Das östliche Ufer ist nur schemenhaft zu erkennen und im Norden erahne ich nur die Hänge des einsamen Berges, der zusätzlich im langsam aufkommenden herbstlichen Nebel verborgen liegt. Unweit der Mündung steht, auf hölzernen Pfählen weit entfernt vom Ufer errichtet und nur mit einer breiten Brücke mit diesem verbunden, die Seestadt. Der einstige Reichtum dieser ganz aus Holz errichteten Stadt, sieht man immer noch an ihren kunstvollen Häusern und dem großen Hafen. Zu der Zeit, als das Königreich unter dem Berge noch von Zwergen bewohnt und die nahe gelegene Stadt Thal in voller Blüte stand, war auch die Seestadt eine geschäftige Hansestadt. Händler aus allen Teilen Mittelerdes kamen hier her, um mit kostbaren Schmuckstücken, Gold, Silber, Edelsteinen, edlen Stoffen und ausgesuchten Esswaren zu handeln, so zumindest hat es mir Thorin einmal mit leuchtenden Augen und schwermütiger Stimme erzählt. Von dieser Pracht und Lebhaftigkeit ist nur wenig übrig geblieben, seitdem der Drache in dem Berg haust und sich jeder der Gefahr, die von ihm ausgeht, bewusst ist.

„Darf ich Euch nach Eurem Namen fragen?", erkundige ich mich unsicher bei unserem Kahnführer, der das Boot gerade geschickt um eine Landzunge herum manövriert. „Bard ...", antwortet er knapp und brummend. „Ich heiße Bil Beutlin und bin ein Hobbit aus dem Auenland, östlich der Fernen Höhen gelegen", kläre ich ihn über mich und meine Herkunft auf, denn ich habe seine fragenden Blicke meine Rasse betreffend bemerkt. „Ein Hobbit ... Eure Art ist uns nur aus Schriften längst vergangener Zeiten bekannt. Hauptsächlich, da Ihr mit Pfeifenkraut gehandelt habt, wenn mich nicht alles täuscht", erzählt er und ich lächle zustimmend. „Ihr habt eine lange Wanderung hinter Euch und dann auch noch mit so ungewöhnlichen Reisegefährten", ergänzt er leise und nickt in die Richtung der Zwerge, die gerade dabei sind, das Geld für die Überfahrt zusammenzulegen. „Besonders, wenn diese Verwandte besuchen wollen..." Ich bin über seinen Scharfsinn erstaunt und schweige lieber, bevor ich noch unsere wahren Absichten verrate, die die Zwerge anscheinend erst einmal geheim halten wollen.

Langsam kommt die im Dunkeln liegende Stadt immer näher. „Wenn wir angelegt haben, bringt Ihr uns zu Eurem Bürgermeister", sagt Thorin befehlshaberisch und übergibt Bard einen kleinen Sack mit Goldmünzen, Dukaten und Silberpfennigen. Der Mensch steckt diesen, nachdem er ihn abschätzend in der Hand gewogen hat, in seine Jackentasche. „Warum sollte unser Bürgermeister Euch sehen wollen?", fragt er respektlos und vertäut das Boot an einem Anleger. „Das werdet Ihr schon sehen ...", erwidert Thorin knurrend und ich kann über seine unfreundliche Art nur den Kopf schütteln und ihn tadelnd anzusehen, als wir alle nacheinander an Land gehen und er mir helfend seine Hand reicht, damit ich aus dem wackelnden Boot steigen kann.

Bard führt uns durch die engen, verschlungenen Gassen und über die breiten, hölzernen Stege der Stadt. Vereinzelte Bewohner sind noch auf den Beinen und erledigen die letzten Aufgaben des Tages. Alle von ihnen starren uns mit großen Augen an, tuscheln hinter vorgehaltenen Händen ... besonders über Thorin, der majestätisch wie immer und mit finsterem Blick neben Bard dahinschreitet, die Hand vielsagend auf den Schaft seines Schwertes gelegt. Der Marktplatz, auf dem die Stadthalle steht, ist eine große, runde, ruhige Wasserfläche, umgeben von gewaltigen Pfeilern, auf denen die noch immer prachtvollen Häuser der wohlhabenderen Bewohner Esgaroths ruhen. Darunter sind die weniger glanzvollen Stände der Markleute zu erkennen und schattenhaft kann ich Mäuse und Ratten hinter Säcken und Kisten verschwinden sehen. Bard steigt eine breite Treppe hinauf, die zum hell erleuchteten und prachtvoll verzierten Tor der Halle führt. Sofort wir er mit uns im Schlepptau von den davorstehenden Wachen aufgehalten, die ungehalten fragen, was wir wollen.

Die kleine HobbitfrauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt