Superposition

128 1 0
                                    

“Siehst du ihn?“, hörte ich jemanden sagen. Dann folgte das Geräusch eines Zuges und der ganze Boden schien zu vibrieren. Fast so als würde er an mir vorbeifahren. Schweißgebadet öffnete ich meine Augen und setzte mich auf. Mein Atem ging stoßweise und mein Herz raste. Als die Tür meines Zimmers aufging, schaute ich in das Gesicht meines Vaters, der mich besorgt musterte. “Abby. Was ist los?“, fragte er und kam langsam auf mich zu.
“Hast du das gehört?“, fragte ich ihn.
“Ich hab dich schreien gehört.“
Verwundert darüber rieb ich mir die Augen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich geschrien hatte.
“Nein, es war das Geräusch eines Zuges. Er fuhr durch mein Zimmer.“, erzählte ich dann stotternd.
“Ach Mäuschen, du hattest einen Albtraum.“
“Nein, war es nicht.“, widersprach ich.
“Aber da war kein Zug, Mäuschen. Und es gab auch kein Erdbeben, also kann es nur ein schlechter Traum gewesen sein.“, entgegnete mein Vater und sah mich aufmunternd an.
“Ja, vielleicht hast du recht.“, murmelte ich und sah auf die Uhr. Es war drei Uhr morgens.
“Versuch zu schlafen.“, sagte mein Vater noch und verließ dann das Zimmer. Völlig durcheinander blickte ich ihm nach. Das alles schien viel zu real zu sein, als dass es sich um einen Traum handeln konnte. Aber was war es dann?

Am nächsten Morgen betrat ich müde die Schule. Mein Blick fiel auf die Spinde und es schien als wolle mein Unterbewusstsein mir etwas mitteilen. Bevor ich zu tief in meinen Gedanken steckte, schüttelte ich den Kopf und ging weiter durch den Flur zum Unterricht. Ich setzte mich hinter Malia, die wie wild die Worte auf ihrem Zettel mit einem gelben Textmarker unterstrich. “Von den meisten von euch bin ich beeindruckt. Das spricht wirklich für eure Lerngewohnheiten und euren Einsatz für eure eigene Bildung. Aber die anderen, fragt mich nach Nachhilfe.“, sagte unsere Mathelehrerin und verteilte die Tests, die wir letztens geschrieben hatten. Malia blickte sie besonders eindringlich an, als sie ihr den Zettel reichte. Sie hatte eine vier Minus. Sauer drehte sie sich um. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass sie ihre Krallen in den Tisch bohrte. “Miss Flemming.“, begann Lydia neben mir und sah zu unserer Lehrerin.
“Lydia, ich sagte dir bereits. Keine extra Noten für alternative Gleichungen basierend auf deinen eigenen theoretischen Funden.“
“Okay, dann ähm...“, stammelte Lydia und sah zu Malia. “Malia, Klauen.“, flüsterte sie, “Klauen, Malia.“
Malia ließ langsam den Tisch los. Erleichtert atmete ich aus.
Die ganze Zeit konnte ich mich kaum konzentrieren. Ständig musste ich an meinen Traum denken. Irgendwas schien mich einfach nicht loszulassen.
Nach dem Unterricht verließ ich den Raum sehr schnell, weil ich dringend an die frische Luft wollte, doch als ich das Gebäude verließ, schien es so, als wäre es plötzlich Nacht. “Abby? Gott sei dank, du kennst mich.“, hörte ich eine Stimme. Ruckartig drehte ich mich um, doch es war niemand da. “Hey, siehst du ihn?“, hörte ich die Stimme wieder. Es war die eines Jungen. “Komm schon, hier lang.“
Meine Beine bewegten sich wie von selbst. Dann hörte ich Pferde. “Vergiss mich nicht.“ In meinem Kopf schien sich alles zu drehen. “Werd ich nicht. Werd ich nicht!“, rief ich laut. Jemand zog mich zurück und mir wurde bewusst, dass es immer noch Tag war. Ein Auto fuhr hupend an mir vorbei. Erschrocken wich ich zurück und atmete durch. “Alles okay?“, fragte Malia, die mich eben gerettet hatte.
“Ja, vielen Dank.“, sagte ich immer noch verängstigt.
“Was war denn, Abby?“, fragte Malia besorgt. Es war gar kein Traum gewesen letzte Nacht. Es war eine Erinnerung. Leise schluckte ich und blickte meine Freundin an.
“Ich... Ich versuchte mich zu erinnern.“

“Hallo?“, rief ich vorsichtig, als ich gegen Abend in Malias Keller ging. Sie hatte mir eine Nachricht geschickt, dass ich herkommen sollte.
“Hier drüben.“, hörte ich Malia. Sie stand in Ketten gelegt an einem Regal. Fragend sah ich sie an und ging auf sie zu.
“Denkst du, es wird nötig sein?“, fragte ich sie.
“Kannst du mir helfen?“
“Ist das ein neuer außerschulischer Club äh... dann trag mich aus.“, erwiderte ich sarkastisch.
“Ich hab ein Problem, Abby. Ich knurre nämlich im Unterricht Leute an. Ich kralle mich in den Tisch. Ich versuchte im Schlafzimmer eine Kojotenhöhle zu bauen. Kennst du die hier noch?“ Malia deutete auf die Ketten.
“Nein, wieso?“, fragte ich verwirrt, “Malia, denkst du wirklich, dass diese Ketten dich sichern werden?“
“Ja, das haben sie schon mal. Vor dem Haus am See, als ich an Vollmond hier her kam. Aber du warst nicht mit mir hier unten. Scott war nicht mit mir hier unten.“
“Ja, richtig...“, antwortete ich nachdenklich.
“Wer dann?“, fragte Malia. Doch ich wusste es nicht.
“Du hättest das nicht allein tun können.“, murmelte ich und musterte sie. Als mein Handy vibrierte, holte ich es aus meiner Jackentasche und schaute auf das Display. Es war Scott.

Ich befreite Malia aus den Ketten und fuhr dann mit ihr in den Wald, um Scott zu treffen. Dort angekommen kam er uns mit Taschenlampen entgehen und reichte uns jeweils eine. Kurz darauf kam Lydia. “Ich bin zu Hause schlafen gegangen. Und wachte ein Kilometer entfernt im Wald wieder auf. Es gibt sicher einen Grund, wieso das passiert ist. Ich war schon mal hier draußen.“, erzählte Scott und ging vor. “Am Anfang der zehnten Klasse. Die Nacht vor dem Probetraining für die erste Reihe. Ich erinerre mich. Ich konnte an nichts anderes denken.“
“Was hast du hier gemacht?“, fragte Malia ihn, während wir ihm durch den Wald folgten.
“Ich suchte nach einer Leiche.“
“Das ist morbide.“, entgegnete Lydia.
“Also, was hab ich hier draußen ganz allein gemacht?“, fragte Scott.
“Ich würde dir ja helfen, aber damals kannten wir uns noch nicht.“, sagte Lydia.
“Ich war eine Kojotin, vielleicht hab ich versucht sie zu fressen.“, warf Malia ein.
“Mein Unterbewusstsein versucht mir etwas mitzuteilen. Aber ich brauche euch, um herauszufinden, was es sagt.“
“Vielleicht warst du nur ein neugieriger Teenager. Du hörtest, dass es eine Leiche gibt.“, versuchte ich mir die Sache zu erklären.
“Aber wie denn? Ich hab nie Nachrichten gesehen und hörte keinen Polizeifunk.“
“Deine Mum arbeitet im Krankenhaus. Vielleicht wurde sie eingestellt und du hast es mitgehört.“
“Meine Mum war nicht zu Hause.“ Scott blieb stehen und grübelte weiter. “Ich wohne acht Kilometer von hier entfernt. Wie kam ich her?“
“Gefahren.“, meinte Malia.
“Ich hatte aber kein Auto.“
“Dann gerannt.“
“Konnte er nicht. Er hatte Asthma.“, erklärte ich nachdenklich.
“Ich versteckte mich, aber sie wussten, dass ich da war.“, erzählte Scott weiter.
“Vielleicht hast du ja megamäßig laut gekeucht.“, machte Malia weiter.
“Woher sollten sie wissen, dass ich es bin?“, fragte Scott und sah uns an.
“Wieso sollte der Sheriff überhaupt denken, dass ich hier draußen sein könnte?“
“Die meisten Todesfälle hatten damals mit dem Übernatürlichen zu tun.“, stellte Lydia fest.
“Ich war nicht übernatürlich. In dieser Nacht wurde ich gebissen. Und da war ich noch kein Werwolf.“, sagte Scott, “Und ich war nicht allein hier draußen. Ich weiß, das klingt verrückt. Aber ich denke, ich hatte einen besten Freund. Und dass er in dieser Nacht mit mir hier draußen war.“
“Das klingt nicht verrückt.“, entgegnete Malia. “Ich weiß, dass mich jemand angekettet hat und ich denke, sie wollten, dass ich menschlich bleibe.“
“Ich kam heute morgen in die Schule und ich war mir sicher, dass ich dort auf jemanden treffen sollte. Aber ich wusste nicht mehr, wer das sein sollte. Ich hielt den ganzen Tag über Ausschau nach ihm.“, erklärte ich. “Wer auch immer das ist. Ich denke, ich hab ihn geliebt.“
“Was wenn wir alle die gleiche Person vermissen?“, spekulierte Scott. Er griff in seine Jackentasche und holte ein Foto heraus. “Ich denke, dass er auf diesem Foto war.“ Es war das Bild, dass wir für das Jahrbuch gemacht hatten. “Er hat genau dort gesessen.“, sagte ich leise und zeigte auf die Stelle zwischen mir und Scott.

Deaton hing die Glasscherbe, die Scott gefunden hatte an einen Faden und schaltete eine kleine Taschenlampe darunter ein. “Jetzt schreibt sie auf magische Weise einfach alles auf?“, fragte Malia ungläubig.
“Es ist nicht immer so einfach.“, meinte Deaton.
“Das ist es nie.“, entgegnete Lydia und setzte sich auf den Stuhl vor den Tisch, auf dem die Scherbe war.
“Beim automatischen Schreiben bewegt sich die Hand außerhalb jeglicher bewusster Wahrnehmung. Und hoffentlich wird dir die Stille, die Dunkelheit und das Licht erlauben einen angenehmeren entspannten Trance ähnlichen Zustand zu finden. Lydia? Ich möchte, dass du in das Licht siehst und alle Gedanken loslässt.“ Malia, Scott, Deaton und ich verließen den Raum, um Lydia allein zu lassen. “Scott, wir sind womöglich nicht in der Lage diese Erinnerung anzuzapfen.“, meinte Deaton dann.
“Wieso nicht?“, fragte Scott ungläubig.
“Die Legende besagte, dass die wilde Jagd Menschen entführt. Aber stimmt das, was du mir erzählt hast, ist die Wahrheit viel gefährlicher. Denn sie löschen Menschen aus der Realität.“
Ich blickte zu Lydia, die etwas aufschrieb.
“Wie sollen wir uns an jemanden erinnern, der aus unserem Verstand gelöscht wurde?“, fragte ich seufzend und verschränkte die Arme.
“Vielleicht ist er das nicht.“, meinte Malia und deutete auf Lydia, die hektisch etwas aufschrieb.
“Ist sie ok? Sollten wir sie stoppen?“, fragte Scott panisch und wollte eingreifen, doch Deaton hielt ihn zurück, um selbst auf sie zuzugehen.
“Lydia?“, fragte er vorsichtig. “Lyida, ganz ruhig.“ Auf einmal hörte sie auf und starrte auf das Blatt vor ihr.
“Ist alles in Ordnung?“, fragte ich ängstlich.
“Lydia?“ Deaton packte ihre Schulter und sah sie an. Malia schnappte sich den Zettel und schaute, was Lydia geschrieben hatte. Mieczyslaw.
“Was bedeutet Mieczyslaw?“, fragte Malia verwirrt.
“Das hat sie nicht geschrieben.“, meinte ich und wandte den Trick an, den Isaac mir einst gezeigt hatte, als es um die Opferungen ging. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete das Wesentliche. Stiles. Es waren Buchstaben, die aus dem Wort Mieczyslaw gebildet wurden.
Lydia erwachte aus ihrer Starre und sah uns nacheinander an.
“Was zur Hölle ist ein Stiles?“

Teen WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt