11. Rote Lichter

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Seit sie denken konnte, lebte sie auf der Straße. Sie lebte dort, wohnte dort, kämpfte dort. Allein, sonst hatte sie niemanden. Was davor, oder mit ihren Eltern war, wusste sie nicht mehr.
Um zu überleben, stahl sie, was sie brauchte. Sie war stärker als die meisten anderen, die hier lebten, und war ihr Gegner stärker, war sie schneller.
Das Mädchen mit den rosaroten Haaren galt als die geschickteste und berüchtigste Diebin von Süd-Meteor. Zugegeben, in diesem Viertel war keiner der Leute besonders begabt, was das Überleben betraf, sodass sie ziemlich herausstach. So hätte wahrscheinlich auch jedes Mitglied der Spinne, wie sie sich nun offiziell nannten, herausgestochen, die ihr Dasein in einer gefährlicheren Gegend, im Westen von Meteor City, fristete.

Die Tage wurden dunkler, die Leute im Süden  ärmer, und dadurch Machis Magen leerer.
Einen nach dem anderen holte der Hunger in den südlichen Gassen, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es Machi genauso ergehen würde. Immerhin knurrte ihr Magen mittlerweile so laut, als wäre darin ein tollwütiger Bär eingesperrt.
Der Hunger trieb sie in die Verzweiflung. Sie wollte leben und nicht armselig verotten, wie alle um sie herum, dachte sie. Und dann kam sie auf eine Idee, die ihr Leben für immer verändern sollte.

Verurteilt sie nicht, denn sie war zu dem Zeitpunkt nur eine arme kleine Diebin, der nichts mehr zum Stehlen blieb, und die sich in den Nächten halb verhungert in den Schlaf quälen musste.
Auf der Müllhalde vertrieb die Mafia die obdachlosen Kinder, also dachte Machi, ihr bliebe nichts anderes übrig, als sich selbst zu verkaufen.
Sie hatte schon öfter von dem Bordell gehört, in dem das ein oder andere Straßenmädchen ihr Leben wieder lebenswert machte. Naja, lebenswert in dem Sinne, die Geldsorgen zu stillen.
„Augen zu und durch. Wird schon nicht so schlimm sein, also reiß dich zusammen, Machi", schoss ihr immer wieder durch den Kopf, während sie sich auf den Weg zu dem Bordell machte.
Als Machi schon bereit zum Anklopfen die Hand gehoben und zu einer Faust geballt hatte, spürte sie, wie jemand von hinten ihre Schulter ergriff, um sie zurückzuhalten. Sie erschrak ein wenig und drehte sich kampfbereit um, hielt aber Inne, da sie ein friedlich wirkendes, blondes Mädchen erblickte. Das etwa 4 Jahre ältere Mädchen starrte sie mit entschlossenen, dunkelbraunen Augen an und sagte: „Tu es nicht, du wirst es bereuen. Es gibt andere Wege. Ich kann dir he-". Machi unterbrach sie und erwiderte kühl: „Das Leben hat mir doch sowieso nie was anderes gezeigt. Nichts anderes ausser kämpfen, um nicht zu sterben. Hier mach ich doch auch nichts anderes oder?" Sie schlug genervt die Hand der enttäuschten Blondine ab und betrat das Bordell.

Die ekligen, nach Alkohol stinkenden und ungepflegt aussehenden Männer darin freuten sich über jede neue „Angestellte", die sie bekamen. Und es interessierte sie kein Stück der Welt, dass Machi erst 12 Jahre alt war. ,Besser so, dass sie kaum Fragen stellen', dachte Machi.
Man vermittelte ihr gleich den ersten Klienten, bezahlte sie ihm Voraus, und ließ sie daraufhin mit dem Mann in einem Zimmer verschwinden. Das Zimmer war dunkel, aber wurde in den Glanz unzähliger roter Lichter getaucht, die an den Wänden und an dem großen, herzförmigen Bett aneinandergekettet waren.
Machis Herz schlug schneller, als der Mann sie sanft auf das Bett zog. Sie wusste genau, wie sehr sie das nicht wollte, war aber überzeugt, ihr bliebe nichts anderes übrig.
Der Mann war nicht unbedingt hässlich, aber er war verdammt noch mal viel zu alt. Er hätte ihr Vater sein können. Und es ekelte sie an, wie er anfing, ihre Kleidung von ihrem Körper zu reißen. Noch widerwärtiger fand sie es, seinen nackten Körper anzusehen. Und kurz bevor er anfangen wollte, seinen Spaß mit Machi zu haben, war sie sich sicher, dass sie lieber verhungern wollte.
Sie drückte ihn also mit einem kräftigen Hieb von sich und zog ihre Kleider, die nur bis zu den Hüften heruntergekrempelt waren, blitzschnell wieder hoch. „Was ist denn jetzt los?!", fragte der Mann wütend. „Ich kann das einfach nicht", brachte Machi angewidert hervor. „Ich habe hierfür bezahlt, das lass ich mir nicht bieten!" In seiner Stimme lag die reinste Aggressivität.
„Sie kriegen ihr Geld zurü-", fing sie zu sprechen an, wurde aber in der selben Sekunde fest an das Bett gedrückt. Er packte ihre Handgelenke dabei so hart, dass sie vor Schmerz gerne geschrien hätte.
„Wenn ich etwas möchte, kriege ich es auch!", brüllte er.
Machi bekam Angst. Aber das, was ihr so Angst machte, war die Tatsache, dass der Mann Recht hatte. So funktionierte diese grausame Welt. Der Stärkere kriegt, was er will.
Machi wehrte sich. Sie wollte nicht mit diesem Mann schlafen. Sie wollte alles, nur das nicht. Es gelang ihr, ihn von sich zu treten und sich kurzzeitig zu befreien. Er richtete sich auf, beleidigte sie hasserfüllt und stürmte wieder auf sie zu. Er packte sie diesmal fester, damit sie keinen Widerstand mehr leisten konnte. Der Mann war einfach kräftiger als sie. Kräftiger als jeder, den sie auf der Straße besiegt hatte.
Machi bekam kaum Luft, als er sie mit seinem Gewicht auf die modrige Matratze presste. Sie glaubte, zu ersticken und gleichzeitig erdrückt zu werden. Doch sie wollte nicht aufgeben.
Während der Mann abgelenkt war, ihren Gürtel zu öffnen, und sie daher nur mit seinem Körper festhielt, streckte sie ihre Hand langsam an das stählerne Bettgeländer über ihrem Kopf.
Fast hätten ihre Finger die rote Lichterkette nicht erreicht, doch sie hatte auf der Straße reichlich an Tricks gelernt.
Der Mann konnte nicht mehr reagieren, denn Machi war unerwartet schnell, als sie die lechtende, rote Lichterkette vom Bettgeländer riss und sie mit beiden Händen um den Hals des Mannes warf, fest zuzog und ihn erdrosselte. Der Anblick, wie ihm langsam und hilflos sein Leben aus den Fingern glitt, gab Machi ein Gefühl von Freiheit. Es hatte ihr die reinste Freude bereitet, zu spüren, dass sie dieses Mal die Stärkere war.

Doch als würde man sie mit Pech übergießen, stürmte im selben Moment einer der Zuhälter das Zimmer, da er ungünstigerweise von draußen die qualvollen, schreiähnlichen Laute des Mannes vernommen hatte, und richtete wütend seine Waffe auf Machi. „Sowas lassen wir hier nicht durchgehen!", schrie er.
Machi war, als zog ihr Leben an ihr vorbei. Sie saß am Boden zerstört vor dem Bett, auf dem die rote Lichterkette um den Hals des leblosen Mannes gewickelt war, und sie war sich absolut sicher, dass das das Ende war. Dabei hatte sie es doch gerade geschafft, sich zu befreien. Sie wollte leben.
Aus ihren ozeanblauen Augen tropften silbrig glänzende Tränen.
,Das hab ich nun davon', dachte sie sich auf den Tod vorbereitend. Aber ihre Hoffnung wollte nicht verschwinden. Irgendetwas in dieser Welt sagte ihr, es wäre noch nicht vorbei. Es schrie ihr förmlich ins Ohr, dass sie gefälligst nicht aufgeben sollte.
Und wie vom Schicksal gewollt, wurde dem Zuhälter, in dem Augenblick, als er seinen Finger an den Abzug legte, von hinten die Kehle durchgeschnitten. Der Zuhälter fiel und Machi erblickte in der Türschwelle einen Jungen mit schwarzen kurzen, strubbeligen Haaren, die ihm aber bis ins Gesicht und knapp über die dunklen Augen hingen.
Er trat auf Machi zu, die wie versteinert auf dem Boden saß.
„Ich bin Chrollo Lucilfer", sprach der Junge ihr zu und blickte sie freundlich an. Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Komm mit uns mit. Wir halten zusammen. Und wir beschützen und gegenseitig. Wir überleben", sagte Chrollo und lächelte sie an. Dabei konnte er es nicht vermeiden, kurz zu ihren rosaroten Haaren zu schielen. Er fand diesen Anblick unfassbar schön.
Machi weinte noch mehr. Aber sie weinte, weil sie sich noch nie von einer Sekunde auf die Nächste so glücklich gefühlt hatte. Sie lächelte zurück und ergriff freudig seine Hand.
Er rettete ihr Leben, er war wie die Hoffnung, die sie nie hatte.
Chrollo strich mit seinem Finger über eins von Machis Handgelenken, um das sich einige blaue Flecken legten. „Sowas wird nie wieder passieren. Ich pass auf dich auf", flüsterte er ihr ins Ohr.
Chrollo Lucilfer? Sie mochte ihn wirklich.
Draußen begegnete Machi auch noch den anderen 7 Mitgliedern der Spinne, wo sie das blonde Mädchen von vorhin, Pakunoda, wiedererkannte. Und sie bekam ein Neues Zuhause mit neuen Freunden, wofür sie Chrollo auf ewig dankbar war.
Sie würde nie wieder Angst haben. Sie würde ab jetzt noch stärker werden.

Die Mitglieder der Spinne erklärten ihrer neuen Kameradin, dass man selbst im Westen von Meteor gehört hatte, dass sie im Süden auf den Straßen dominiert hatte.
Daher hatten sie nach ihr gesucht, um sie als Spinnenbein anzuwerben.
Denn die Spinne sollte genügend starke Beine haben, um Aufrecht zu stehen.

Und die Spinne sollte noch wirklich sehr Aufrecht stehen.

Von seinem Buch hatte Chrollo übrigens allen erzählt, auch wenn er es ersteinmal nicht zu nutzen wusste, aber es sollte ja ein absolutes Vertrauensverhältnis innerhalb der Bande bestehen.
Sie waren immerhin Freunde, die unzertrennlichsten Freunde.

A Story about ThievesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt