16. In der Außenwelt

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„Intuition", sagte Machi bedrückt und strich sich eine ihrer verwuschelten pinken Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre blauen Augen waren beinahe die Definition des Winters. Eiskalt.
„Mein Gefühl sagt mir, dass wir den, der Nummer 4 getötet hat, wiedertreffen werden. Irgendwann, irgendwo. Dann bringen wir ihn um, und zwar langsam, nicht wahr, Danchou?"
„Selbstverständlich", antwortete Chrollo. Von der Decke ihres Unterschlupfes riselte Sand. Es war der Abend vor der Abreise aus Meteor City.
„Ich lass sowas nicht nochmal passieren. Wer auch immer das war, der hat sich die Falschen zum Feind gemacht", fügte er hinzu.
Das silberne Mondlicht schien durch die schmutzigen Fenster, vor dem Chrollo stand. Er erwartete, Machi würde aus dem Zimmer gehen, doch spürte, wie sie von hinten plötzlich ihre Arme um ihn schloss. „Danke", flüsterte sie. „Dass du mich damals gerettet hast."
Chrollo hätte sich gerne umgedreht und sie noch fester umarmt, hielt sich aber  zurück.
Ginge es nach ihm, hätte allein dieser Moment ewig dauern können. Doch die Phantomtruppe wollte Meteor City noch in dieser Nacht verlassen.

Sie hatten Meteor City hinter sich gelassen. Sie waren der verdammten Wüste endlich entkomemn. Aber sie hätten niemals ihre Erinnerungen losgelassen, weder die Schlechten, noch die Guten. Nie hätten sie vergessen, woher sie kamen, und wie sie zusammengefunden hatten.
Sie zogen umher. Da draußen in der Welt, in der niemand sie kannte. In der niemand wusste, dass sie existierten. Doch das sollte sich bald ändern.
Sie fegten wie aus dem Nichts, wie ein Phantom, das ganz plötzlich aus dem Schatten stürmte und wie ein Sandsturm, der durch eine Wüste fegte, über die Welt da draußen. Sie war größer, als sie erwartet hatten, und sie bot noch viel mehr.
Die Spinnen waren nun endlich vollkommen frei.
Sie konnten tun und lassen, was sie wollten.
Es dauerte gar nicht lange, dass die Phantomtruppe bekannt wurde. Denn die Spinnen richteten Chaos an. Wie geplant, stahlen sie alles, was sie wollten, waren es Geld, Schätze, oder einfach nur eine Dose Bier aus dem Supermarkt.
Und dafür gingen sie so weit sie mussten, oder besser gesagt wollten.
Man könnte sagen, sie erhielten neben ihrem Dasein als Diebe auch noch den Ruf als größte Massenmörder der letzten Jahrhunderte.
Dieser Ruf war nur berechtigt.
Sie töteten außerdem nicht nur am häufigsten von allen Verbrechern, sondern auch am Brutalsten. Sie waren eben verdammt stark.
Die Mafia, denen sie ein großes Dorn im Auge waren, hetzte dutzende erfahrene Nen-Nutzer auf die Phantomtruppe, bekam aber immer dasselbe Resultat: Die übel zugerichteten Leichen der ausgesendeten Nen-Nutzer.
Die Phantomtruppe war überlegen. Dass niemand wusste, woher sie eigentlich kamen, und warum, machte sie neben ihrer Unaufhaltsamkeit noch gefährlicher. Und vor allem Beängstigender.
Sie waren einfach da. Ganz plötzlich.
Die Spinnen genossen den Ruhm.
Auch wenn es ein dunkler Ruhm war.
Aber sie hatten ihren Traum verwirklicht, sie zählten zu den größten Verbrechern aller Zeiten. Und man fürchtete sich vor ihnen.
Chrollo hatte eben auf den Straßen von Meteor City eine Hand voll Kleinkrimineller zu Meisterdieben gemacht und ihr ganzes Leben grundsätzlich verändert.
Sie liebten die Tatsache, nicht mehr im Dreck leben zu müssen und die alltägliche Furcht, von Hunger heimgesucht und vom Tod geholt zu werden, losgeworden zu sein. Ihre neue Freiheit, alles tun und lassen zu können, wonach ihnen war, genossen sie in vollen Zügen.

Sie wurden für viele große Raubzüge bekannt. Raubzüge, auf denen sich Chrollo nebenbei noch weitere Fähigkeiten mit seinem Buch zu Eigen machte. Anwenden konnte er sie meistens noch besser als die ehemaligen Nutzer.
Auch die Spinnenbeine wurden stärker, mit jedem Kampf. Das Nen eines jeden einzelnen war mittlerweile so mächtig, dass andere, Schwächere, in bloßer Gegenwart ins Zittern gerieten.
Shalnark bestand zwischenzeitlich die
Hunter-Prüfung, es war nur nützlich, ein Mitglied mit Hunter-Lizenz und damit ein Mitglied mit besonderen Vergünstigungen in der Truppe zu haben. Dazu eignete sich Shalnark perfekt, da er mit Technik am vertrautesten war und so am problemlosesten seine Hunter-Vergünstigungen nutzen konnte, zum Beispiel mit der Hunter-Website.

Die großen Überfälle führte die Phantomtruppe vollzählig aus. Sie reisten ja auch zusammen, nur kleinere Raubzüge vollführten sie nebensächlich alleine oder in Kleingruppen.
Wie dem auch sei, die großen Überfälle endeten meist in einem Massaker. Ja, eigentlich immer.
Am Bekanntesten war wohl das Kurta-Klan-Massaker. Die Phantomtruppe beging es etwa ein Jahr nach ihrer Gründung.
Sie rotteten den Kurta-Klan vollständig aus, ohne jede Ausnahme, nur um an deren rote Augen, für die der Kurta-Klan bekannt war, zu gelangen und sie teuer zu verkaufen.
Die rote Farbe der Augen galt nämlich als eine der schönsten Farben der Welt.
Die Phantomtruppe tötete auf skrupellose Weise also jedes Kurta-Klan-Mitglied und riss deren Augen heraus. Beinahe jedes.
Es geschah, als die Diebe schon fast alle Augen gesammelt hatten. Unzählige Liter Blut klebten an den Wänden. Pakunoda kümmerte sich noch um die restlichen Klan-Mitglieder. Dabei war sie alleine.
Sie wollte gerade zurück zu ihren Kameraden kehren, da entdeckte sie einen ungefähr 15 Jahre alten, blonden Jungen, wie er sich in einem Gebüsch versteckte. Sie zog den verängstigten Jungen heraus, der sie anflehte, ihn am Leben zu lassen. Er weinte. In seinen Augen spiegelten sich Schmerz, Angst und Verzweiflung.
Pakunoda hielt einen Moment inne, als hätte sie in dieser einen Sekunde Mitgefühl verspürt. Als wäre da ein Stückchen Menschlichkeit in ihr zurückgeblieben.
Aber warum? Bis jetzt hatte sie doch nie Probleme mit soetwas gehabt. Sie schloss die Augen, um sich zur Besinnung zu bringen und dachte: „Das bin ich nicht. Die anderen schlachten doch auch alle ab. Besonders Phinks, Uvogin und Feitan.
Verdammt. Ich tue es. Für Danchou."
Jedes Spinnenbein zeigte grenzenlose Loyalität und grenzenloses Vertrauen gegenüber Chrollo, und dieser zeigte seinen Kameraden grenzenlose Loyalität und grenzenloses Vertrauen zurück.
Also musste Pakunoda das auch. Doch als sie die Augen öffnete, war der Junge bereits im dichten Gestrüpp des Waldes verschwunden.
Auf einmal hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
„Hey Paku, bist du da fertig?", fragte Uvogin schreiend, während er angerannt kam. Pakunoda nickte. Sie mussten das ja nicht wissen.
Trotzdem bereute sie zutiefst, gezögert zu haben, zu töten. Sie würde sich einen solchen Fehler niemals mehr erlauben. Ein einziges mal einen 15-Jährigen laufen zu lassen konnte ja hoffentlich nicht so verheerend sein, oder etwa doch?
Nach dieser brutalen, blutigen Nacht zog die Phantomtruppe zufrieden weiter. Die roten Augen hatten sie ein ganzes Stück reicher gemacht. Aber sie wollten mehr.
Nummer 4 hatten sie außerdem nicht vergessen. Sie würden seinen Mörder irgendwann finden und ihm ein abscheuliches Ende bereiten. Das schworen sie.

Sie wollten noch mehr Ruhm, Geld und Schätze. Sie wollten etwas noch Größeres ausrauben. Und da kam Chrollo eine Idee. Was eignete sich besser für eine Gruppe blutrünstiger Diebe, als die größte und an Schätzen reichste Pyramide der Welt  auszurauben?

A Story about ThievesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt