70. Die Stadt, in der alles seinen Anfang nahm

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Es war warm.
Die Sonne schien und die Luft war trocken.
So trocken, als wäre sie einfach ausgetrocknet.
So wie der Boden.
Manchmal flogen Sandkörner und Staub durch die Lüfte.
Manchmal gab es Sandstürme.
Aber die Sonne schien jeden Tag, auch im Winter.
Sie schien auch an jenem Tag.
Heiß knallte sie auf die Dächer und auf den Boden, bahnte sich auch einen Weg in die Häuser.
Manche empfanden dieses Klima als angenehm, und manche als lästig.
Aber da war ein einziger Junge, dem es komplett gleich war. Es konnte eiskalt sein, es konnte höllisch warm sein, es machte für ihn keinen Unterschied.
Er fühlte sich immer wohl.
Der Junge lebte in einem alten, aber noch recht gut erhaltenen Haus, mitten in dieser staubigen Stadt.
Es war eine arme Stadt. Die meisten Menschen lebten auf der Straße, oder wurden von den wenigen terrorisiert, die reich waren.
Aber dieser Junge hatte es gut.
Seine Familie hatte nicht viel Geld.
Aber sie waren nicht arm genug, um Hunger zu leiden.
Sie hatten sogar einen kleinen, rostigen Fernseher.
Der Junge liebte diesen Fernseher.
Jeden Tag, wenn er gerade Zeit hatte, setzte er sich davor und sah sich die Zeichentricksendungen an, die ihm so gefielen.
Ja, er war glücklich.
Alles was er brauchte, waren seine Eltern, und diesen Fernseher.
Und so saß der Junge auch an jenem Tag vor dem Fernseher, und sah aufgeregt hinein.
Er war zu dem Zeitpunkt schon 15, aber er genoss es noch immer.
Irgendwann hörte er, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.
Seine Eltern waren vom Einkaufen zurück.
„Hallo Mama, Papa!", rief der Junge von der Couch, auf der er zum Fernsehschauen saß.
Seine Mutter setzte sich neben ihn.
„Schaust du schon wieder stundenlang in diese Kiste?", fragte sie lachend.
Der Junge nickte fröhlich.
„Dann kannst du bestimmt kurz von dieser Koste wegsehen, oder?", fragte die Mutter.
Der Junge sah sie erwartungsvoll an.
Seine Mutter krempelte in ihrer Tasche herum, als würde sie nach etwas suchen.
Sie hatte wirklich schöne, rosarote, gewellte Haare.
„Ich hab's!", rief sie irgendwann und zog etwas aus ihrer Tasche heraus.
„Für dich!", sagte sie mit einem engelsgleichen Lächeln und drückte es dem Jungen in die Hand.
Er sah es an.
Es war eine Packung mit Kaugummis darin.
„Bungee-Gum" war der Schriftzug auf der Verpackung.
Der Junge strahlte es an.
Auch wenn er schon 15 Jahre alt war.
Er bekam nie Geschenke.
Er hatte keine Spielzeuge gehabt.
Er hatte bloß diesen Fernseher.
Seine Eltern hatten nicht genügend Geld, um Spielsachen oder Videospiele  zu kaufen.
Das tat ihnen leid. Immer schon.
Also hatte die Mutter an diesem Tag diese Packung mit Kaugummis gekauft.
Weil sie ihn so sehr liebten.
Der Junge bedankte sich unzählige Male und umarmte seine Mutter.
Er war wirklich glücklich.
Unvorstellbar glücklich.
Er weinte schon fast.
In Meteor City gab es nicht viele, die so leben konnten.
Und es gab nicht viele, die so geliebt wurden, wie dieser Junge.

Noch am selben Tag ging er aus dem Haus, in die Gassen hinein.
Natürlich nur in die, in der keine Diebe oder andere Kriminelle wohnten.
Er ging in die Gassen in der Nähe seines Hauses, um mit seinen beiden einzigen Freunden zu spielen.
Sie beide waren ärmer als er, also teilte er sein Kaugummi mit ihnen.
Auch sie machte das unheimlich glücklich.
Sie redeten, lachten, tobten durch die Gassen.
Sie wollten sich wie kleine Kinder fühlen.
Es war einer ihrer besten Tage.
Aber sie vergaßen die Zeit.
Langsam wurde es dunkel.
Das Rot des Himmels schien sich schon zu verziehen.
Die drei Jungs verabschiedeten sich also voneinander, und gingen nach Hause.
Der Junge, um den es hier geht, hatte den längsten Weg.
Es war schon ziemlich dunkel, und unheimlich.
Der Junge hatte aber keine Angst.
Er lief durch die Gassen, ganz kalt, als wäre es nichts.
Doch auf einmal erstarrte er.
Ein Schock durchfuhr ihn.
Nein. Es war pure Angst.
Da war etwas mit ihm in dieser Gasse.
Es war gefährlich.
Der Junge lief langsamer, schaute sich in alle Richtungen um.
Er hielt das Bungee-Gum fest umklammert.
Dann dachte er an seine Freunde.
Irgendetwas, was in aller Welt es auch war, sagte ihm, dass ihnen etwas zugestoßen war.
Also lief er den ganzen Weg durch die Gasse zurück, ging den Weg entlang, den normalerweise seine Freunde nahmen.
War er bloß Paranoid? Wahnsinnig? 
Eins war klar, dieses furchtbare Gefühl ging nicht weg.
Dieses Etwas war immernoch in den Gassen.
Als würde es ihm folgen.
Irgendwann fand er seine beiden Freunde.
Sie lagen am Boden, noch bevor sie die Gassen hätten verlassen können.
Beide waren verletzt. Nicht tödlich, aber sie bluteten auch nicht gerade wenig.
Verzweifelt rüttelte sie der Junge, versuchte sie aufzuwecken.
„Es war....", stotterte einer der beiden, „...ein Verrückter aus den Verbrechervierteln..."
Der Junge erschrak, schaute auf, und sah sich um.
Eine Gestalt stand da. Direkt vor ihm.
Sie war pechschwarz. Zumindest sah sie um dunken Licht so aus.
Sie war stark. Und böse.
Der Junge zitterte. Er konnte sich nicht bewegen.
Die Gestalt kam näher.
Der Junge drohte der Gestalt, er würde ihr weh tun, doch das interessierte sie nicht.
Der Junge konnte nichts machen.
Er hatte Todesangst. Er wollte noch nicht sterben. Er wollte zurück, zu seinen geliebten Eltern. Und ihnen wenigstens noch einmal sagen, dass er sie liebte.
Die Gestalt kam und machte sich an den Taschen der drei zu schaffen.
Sie zog alles Geld heraus, dass sie finden konnte.
Es waren die letzten Ersparnisse der Freunde des Jungen.
Die Gestalt tötete sie nicht, was dem Jungen seine Angst nahm. Zumindest dachte er für einen Moment, keine Angst zu haben.
Der Junge wurde also wütend, dass er mit allem Mut die schwarze Gestalt attackierte.
Seine Freunde und er brauchten ihr Geld. Wie sollten sie sonst überleben?
Doch keine Chance. Die Gestalt zückte ein Messer und hielt den Jungen damit zurück. Sie stach zu. Etwas Blut spritzte an die Wand.
„Leg dich nicht mit einem Dieb an", murmelte die schwarze Gestalt, und blickte mit ihren eiskalten, dunkelgrauen Augen auf den Jungen herab, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenkrümmte und seine Wunde festhielt.
Die Todesangst kam zurück. Die Gestalt war wie ein Monster. Der Junge hätte sich beinahe übergeben bei dieser Präsens.
Die schwarze Gestalt wendete sich zum Gehen.
Der Junge hätte diese grauen Augen, diese schwarzen, verstrubbelten Haare und dieses Buch, das die Gestalt seltsamerweise dabeihatte, niemals vergessen.
Die Gestalt war also ein Junge, so wie er, wahrscheinlich genauso alt.
Kaum war der schwarzhaarige Junge also weg, verschwand langsam auch dieser Angstschub.
Als hätte der schwarzhaarige Junge etwas Böses an sich, dass die gesamte Luft um ihn herum verschmutzte.
Der Junge, um den diese Geschichte hier geht, brachte seine beiden Freunde daraufhin nach Hause.
Danach machte er sich selbst auf den Heimweg.
Er humpelte.
Er zitterte.
Sein Blut floss.
Doch etwas machte sich in ihm breit.
Es war ein Gefühl, wie Mordlust, oder Blutdurst.
Ein Wunsch. Er wollte diesen schwarzhaarigen Jungen zur Strecke bringen. Kostete es, was es wollte.
Er konnte an nichts anderes mehr denken.
Dieses Gefühl war einfach da.
Es würde niemals weggehen.
Er wollte den Schwarzhaarigen bekämpfen, unbedingt, irgendwann. Und wenn es sein eigenes Leben kostete.
Jetzt ging er aber erst einmal nach Hause.
Seine Eltern warteten bestimmt schon.
Und er freute sich, sie wiederzusehen.
Das Bungee-Gum-Papier hielt er immernoch fest umklammert.

A Story about ThievesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt