Chapter 76.

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,,Sie...ist gestorben?" fragte ich leise, fassungslos und schockiert zugleich.
Anna nickte.
,,Sie, ihr Mann und Töchter starben vor zwei Jahren an Influenza." erklärte die braunhaarige.
Ich sah sie fassungslos an.
Bis eben hatte ich noch geglaubt, dass ich meine Mutter wiedersehen würde.
Dass sie auf mich warten würde.
Dass meine Hände ihre wieder berühren könnten.
Doch das war nicht mehr möglich.
Sie war tot.
Sie war einfach tot.
Ich spürte Lyans Hand auf meiner, tröstend und mitfühlend.
Der Schmerz in meiner Brust wuchs, je mehr ich darüber nachdachte.
Meine Mutter war tot.
Ich hatte niemanden mehr, außer meine Schwester und meinen Vater, den ich jedoch nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte.
Meine Mutter war die einzige Person, die nachvollziehen konnte, was wir erlebt hatten und was wir durchstehen mussten.
Wir waren immer zusammen gewesen.
Doch jetzt?
Ich war allein.
Sie war fort.
,,Martha, oder Elaine, hat mir vor ihrem Tod ein paar Dinge anvertraut. Ich habe sie aufgehoben, weil sie mich darum gebeten hat. Vielleicht kannst du ja mit ihnen etwas anfangen." sagte Anna und erhob sich, um etwas zu holen.
Ich atmete durch und versuchte die Tränen zurückzuhalten.
Ich konnte es nicht glauben.
,,Es tut mir so leid, Dai." flüsterte Lyan.
Ich schüttelte leicht den Kopf, um meine Gedanken zu klären.
,,Wird schon." erwiderte ich und versuchte dabei nicht all zu gebrechlich zu klingen.
Ich musste stark sein.
Für mich und für mein Kind.
Anna kam zurück mit einer kleinen Box aus dunklem Holz.
Eine dünne Staubschicht lag auf ihr und verdeckte die silbernen Muster auf dem Holz.
,,Ich weiß nicht, was drinnen ist aber ich denke Martha würde wollen, dass du sie bekommst." meinte sie.
Ich nickte leicht.
Das würde meiner Mutter ähnlich sein.
Anna stellte die Box auf den Tisch.
Mein Herz klopfte, als ich den Deckel absetzte.
Lyan kam ein Stück näher und wartete gespannt.
Auch Anna wirkte neugierig.
Mein Blick fiel in die Box und enthüllte das Innenleben.
Auf dem Boden lagen ein zusammengefalteter Zettel und ein Brief.
Ich nahm das gefaltete Papier heraus.
Die Textur fühlte sich rau an in meiner Hand und die Seiten waren ein wenig eingerissen, als ich das Papier auseinander faltete.
Schnell erkannte ich einen Text und Noten.
Musiknoten.
Mir kamen die Worte direkt bekannt vor und die Überschrift bestätigte meine Vermutung, was genau dieser Text sein könnte.
Dai's Lullaby.
Es war das Wiegenlied, welches meine Mutter mir immer zum Einschlafen vorgesungen hatte.
Geschrieben wurde es auf dieses Papier vor zwei Jahren an meinem Geburtstag.
Ich drehte das Stück Papier auf die Rückseite und erblickte einen kleinen Satz, der mit einer Feder geschrieben wurde.
Dass die ganze Welt es hören mag.
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was genau meine Mutter mit diesem Satz gemeint hatte, doch innerlich wusste ich:
Die ganze Welt würde es irgendwann hören.
Und mein Kind würde es hören.
Ich würde die Tradition weiterführen und es meinem Kind zum Einschlafen vorsingen.
Und mein Kind würde es meinen Enkelkindern vorsingen.
So würde es von Generation zu Generation weiter gehen.
Ich seufzte kurz leise, dann legte ich das Papier bei Seite und holte den Brief hervor.
Er war versiegelt mit rotem Wachs, ließ sich jedoch leicht öffnen.
Auch dieser Brief wurde an meinem Geburtstag vor zwei Jahren geschrieben und war ein wenig fleckig geworden.
Ich faltete den Brief auseinander und erblickte eine klare und schwungvolle Schrift.
Sofort begann ich zu lesen.
---
Mein liebes Kind,
wenn du diese Zeilen hier liest, ist mein Wunsch wahr geworden und du bist am Leben.
Ich habe dir noch so viel zu sagen.
Erst einmal, möchte ich mich entschuldigen, dafür, dass ich dich nicht mitnehmen konnte.
Du glaubst nicht, was für ein Schmerz das war, dich an diesen grausamen Ort zurück zu lassen.
Was für ein Gefühl das war, dich an an einem so gesetzlosen und traurigen Ort zur Welt bringen zu müssen und zu wissen, dass du niemals so eine erfüllte Kindheit haben wirst, wie ich sie hatte.
Es tut mir Leid.
Ich hatte das nie für dich gewollt.
Und noch weniger wollte ich dich verlassen.
Matthias, ein Wächter von dem Markt, hatte ein Auge auf mich geworfen und auch ich war nicht abgeneigt von ihm gewesen.
Er wollte uns befreien, jedoch ließ der Leiter nur die Wahl zwischen uns beiden.
Ich sagte zu Matthias, ich würde niemals ohne dich gehen.
Du warst der einzige Schatz, den ich noch besaß.
Du warst ein Kind, welches mich brauchte.
Es war ein Schock für mich neben dir in unserer gemütlichen kleinen Höhle einzuschlafen und neben Matthias in einer Kutsche aufzuwachen.
Ohne dich.
Ich habe ihm nie verzeihen können, uns getrennt zu haben.
Es verging keine Minute, in der ich nicht an dich gedacht habe.
Alpträume haben mich gequält, genauso wie die Frage, wie es dir geht und was du machst.
Ob du am Leben bist.
Ob es dir gut geht.
So viele Fragen und so viele Gedanken.
Matthias brachte mich in dieses Dorf und bot mir ein Leben unter den Namen Martha.
Er versprach mir, dich irgendwann zu holen, wenn ich das Leben mit ihm führte, welches wir uns erträumt hatten.
Ich habe ihn geheiratet und du hast sogar zwei kleine Schwestern.
Doch so schön dieses neue Leben war, du hast immer gefehlt.
Mein erstes Kind.
Das Kind, welches ich zurück ließ.
Ich habe mir so sehr gewünscht, dich noch einmal zu sehen.
Deine Hand noch einmal zu berühren.
Doch ich glaube meine Zeit endet schneller, als gedacht.
Darum möchte ich dich bitten:
Lebe dein Leben.
Liebe dich und die Personen um dich herum, jede Macke, die du erkennst.
Das Leben kann nur noch schöner werden, nachdem was wir erleben mussten.
Nachdem du als kleines weinendes Wesen, genau an meinem Geburtstag auf die Welt kamst.
Nachdem du all das Leid ertragen musstest, welches ich nicht abwenden konnte.
Nachdem du nun hoffentlich in sicheren Händen bist.
In Händen, die dich lieben.
Du wirst immer in meinen Händen sein, mein liebes Kind.
In ewiger Liebe.
Elaine, deine Mama.
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Tränen liefen über meine Wangen, als ich diese Zeilen las.
Ich hatte geglaubt, meine Mutter hätte mich verlassen, mich mit Absicht zurück gelassen.
Doch nun kannte ich die Wahrheit.
Sie hatte immer gehofft, dass ich noch am Leben war und dass wir uns wiedersehen würden.
Diese Hoffnung hatte sie bis zuletzt, bis zu ihrem Tod.
Und ich hatte ihr Vorwürfe gemacht.
Ich wünschte mir, ich hätte mich bei ihr entschuldigen können, sie sehen können und ihr sagen können, wie sehr ich sie vermisste.
Doch das war nicht mehr möglich.
Sie weilte nicht mehr unter uns.
Und so musste ich mit der Schuld leben.
Mit der Schuld, schlecht über sie gedacht zu haben.
Ich konnte meine Gedanken nicht rückgängig machen.
Ich konnte sie nur akzeptieren und vergessen.
Ich wünschte, ich hätte meiner Mutter von den Dingen erzählen können, die ich erlebt hatte.
Kamil, meine Schwester und Lyan.
Das Kind, welches ich erwartete.
Und mein Leben bei den Assassinen.
Ich wünschte, ich hätte ihr sagen können, dass es mir gut ging und dass ich in Sicherheit war.
Dass ich das Leben lebte, welches sie sich für mich gewünscht hatte.
Ein Leben in sicheren Händen.
Doch vielleicht sah sie es bereits.
Vielleicht sah sie zu, wie mein Leben voran lief, ich Dinge erlebte und vielleicht schüttelte sie manchmal den Kopf, wenn ich mal wieder eine voreilige und dumme Entscheidung traf.
Sie war da, da war ich mir sicher.
In Form der Blumen, die in Lyans Blumenkästen wuchsen.
In Form der Früchte, die an den Bäumen im Garten wuchsen.
In Form der Schmetterlinge, die über die Blüten tanzten.
Sie war da und das würde sie immer sein.
In jedem einzelnen Moment, war sie da.

𝕾𝖓𝖔𝖜 𝖋𝖆𝖑𝖑𝖎𝖓𝖌 (Omega X Omega) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt