Chapter 56.

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,,Du willst zur Beta 27 gehen?!"
Mit großen fassungslosen Augen starrte Noëlle mich an.
Angst, Ärger und Ungläubigkeit leuchtete in ihnen.
Ich nickte leicht.
,,Wenn jemand weiß, was mit meiner Mutter geschehen ist, dann der Leiter von beta 27. Schließlich waren sie und ich zusammen dort und er wird doch wohl mitbekommen, wenn eine der Omegas plötzlich verschwindet, oder nicht?" erklärte ich.
Die weißhaarige Alpha schüttelte den Kopf.
,,Dass du überhaupt daran denkst, dahin zurückzukehren, schockiert mich! Du kannst froh sein von diesem Ort befreit worden zu sein!" meinte sie.
Ich nickte wieder.
,,Natürlich bin ich froh, gerettet worden zu sein. Aber wenn meine Mutter noch am Leben ist, muss ich das wissen. Sie ist schließlich meine Mutter." erwiderte ich.
Kurz sah ich zu meinem Partner, der mit Pakka im Arm auf der Couch saß und das Gespräch ruhig beobachtete.
Ich wusste, dass er innerlich auf Noëlles Seite stand aber meine Beweggründe nachvollziehen konnte.
,,Dir ist klar, dass diese Leute dich sofort einsperren oder umbringen, wenn du das Lager nur annähernd betrittst, oder?" fragte die Alpha, etwas ruhiger.
Ich senkte leicht den Kopf.
,,Ich weiß, darum wollte ich auch mit dir reden, in der Hoffnung, dass du uns begleiten könntest." erwiderte ich.
Noëlle schüttelte den Kopf.
,,Ich allein werde euch nicht beschützen können. Eine falsche Bewegung, einmal unaufmerksam sein und ich wäre ausgeschaltet." meinte sie.
Ich setzte mich zu Lyan auf die Couch im Haus meiner Schwester.
,,Dann fragen wir noch ein paar andere Alphas, ob sie uns begleiten." schlug ich vor.
Meine Schwester ließ sich auf einem Stuhl nieder und sah mir ernst in die Augen.
,,Dai, was meinst du, warum wir Beta 27 noch nicht zerstört haben, hm?" fragte sie.
Kurz zögerte ich bei dieser Frage.
Sie hatte mir den Grund schon einmal erklärt.
Sie waren zu wenige.
,,I-Ihr seid zu wenige." antwortete ich.
Noëlle nickte.
,,Ganz genau. Wenn wir schon nach Informationen über deine Mutter suchen, könnten wir das Lager auch direkt zerstören. Das geht aber nicht, da wir zu wenige Leute sind. Das Lager ist riesig und wird streng bewacht. Zu viele Leute würden sterben, würden wir angreifen. Wenn wir also das Lager nicht mal zerstören können, können wir auch nicht einfach einen Trupp bilden, der dich dorthin begleitet." erklärte sie.
Das klang logisch und ich verstand genau, was sie meinte.
,,Hinzu kommt, dass ich dich und Lyan sowieso niemals dorthin gehen lassen würde. Ihr wärt leichte Beute für diese Leute und gerade du, Dai, solltest langsam begreifen, dass du dich um des Babys Willen nicht in Gefahr bringen darfst." ergänzte sie.
Lyan wandte seinen sanften rubinroten Blick zu mir.
,,Ich sehe das genauso. Ich weiß, wie schwer es ist, nicht zu wissen, ob Familienmitglieder noch leben oder nicht, aber es ist einfach zu gefährlich, Dai." meinte er ruhig.
In seinen schönen Augen schimmerten Angst und Sorge.
Ich nickte wieder leicht, als Zeichen, dass ich es verstand.
Doch innerlich fühlte ich mich leer.
Ich würde nun also nie erfahren, ob meine Mutter noch am Leben war, oder nicht.
Was, wenn sie auf mich wartete?
Was, wenn sie gerade ein schreckliches Leben führte und darauf wartete, dass sie gerettet wurde?
Was, wenn sie dachte, dass ich tot sei?
Es ließ mir keine Ruhe.
Jede Minute dachte ich an sie und fragte mich so viele Dinge gleichzeitig.
Ich musste doch irgendwie irgendetwas herausfinden können.
Später in der Nacht lag ich noch lange wach, während Lyans Körper sich schnarchend hob und senkte.
Auch Pakka schlief brav und ließ keinen Laut von sich ertönen.
Ich hingegen wandte mich hin und her.
Immer wieder sah ich die Erinnerungen vor meinem geistigen Auge abspielen.
Eine von ihnen tat besonders weh.
Ich war gerade 7 Jahre alt und saß zusammen mit meiner Mutter auf dem kalten, leicht gefrorenen Boden im Lager Beta 27.
Leichter Nebel hing an den Bäumen und in den Büschen.
Kleine Flocken fielen vom Himmel und der Atem aller Sklaven ging in hellen Wölkchen empor.
Es war kalt, doch im Schoß meiner Mutter konnte man die Kälte kaum spüren.
Nur ihre wohlige Wärme, die sie mir schenkte, während sie durch meine Haare strich.
Ich sah hoch zum hellgrauen Himmel, während die Flocken fielen und den Boden bedeckten.
,,Es ist kalt." jammerte ich und kuschelte mich enger an den warmen Körper meiner Mutter.
Ihre hellblauen Augen leuchteten sanft.
,,Das kommt, weil es Winter ist, mein Schatz. Aber keine Sorge, bald kommt der Frühling." erwiderte sie.
,,Siehst du?" ergänzte sie und deutete auf einen kleinen grünen Büschel, als dem grüne Stiele stachen mit ovalen weißen Blütenköpfen.
Schneeglöckchen.
,,Der Winter geht und der Frühling kommt, Jahr um Jahr."
Ich drehte den Kopf und sah meine Mutter mit großen Augen an.
,,Aber ich will nicht, dass der Winter geht. Warum kann er nicht mit dem Frühling zusammen bleiben?" fragte ich sie verständnislos.
Meine Mutter lächelte sanft.
,,Der Winter ist dafür da, dass sich die Erde erholen kann, damit im Frühling die Blumen blühen, es im Sommer warm wird und im Herbst die Früchte reifen. Es ist seine Aufgabe irgendwann zu gehen." erwiderte sie.
Einen Moment schwieg ich.
,,Musst du auch irgendwann gehen?"
Die Augen meiner Mutter leuchteten leicht, als ich diese Frage stellte.
Liebevoll strich sie über meinen Kopf.
,,Hier, an diesem Ort, weiß man nie, wann die Zeit kommt zu gehen, Dai. Dennoch hoffe ich, dass ich erst dann gehen muss, wenn du mich nicht mehr brauchst." erklärte sie.
Ich sah sie entsetzt an.
,,Aber ich werde dich so vermissen."
Meine Mutter lächelte.
,,Ich weiß, mein Kleiner. Doch, egal wo du dann hinsiehst, wirst du an mich erinnert werden. Gerade am Anfang des Frühlings, wenn die Schneeglöckchen kommen, werde ich bei dir sein, egal wo du dann bist." erwiderte sie.
Ich drehte wieder den Kopf zu den Schneeglöckchen.
Ihre kleinen Köpfchen wackelten leicht, als ein kalter Windzug durch sie fuhr.
Ich würde an sie erinnert werden.
Die Erinnerung verblasste und zurück blieb nur eine Träne, die sich den Weg meine Wange hinunter suchte.
Mir wurde jetzt erst bewusst, wie sehr mir meine Mutter fehlte.
Jetzt, wo es noch keine Schneeglöckchen in Lyans Blumenkästen gab, die mich an sie erinnern könnten.
Vorsichtig setzte ich mich auf und wischte die Träne weg.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Ich spürte nur dieses große Loch in meinem Herzen, welches immer und immer mehr schmerzte.
,,Wo bist du nur?" flüsterte ich leise in die Nacht.
Ich schluckte ein Wimmern hinunter und sah kurz zu meinem Partner, der noch immer friedlich schlummerte.
Er und Noëlle wollten mich beschützen.
Sie beiden wollten auf keinen Fall, dass ich zurück zur Beta 27 ging.
Und ich wollte meine Mutter nicht im Stich lassen.
Lyan und meine Schwester verstanden meinen Frust und meine Angst nicht.
Nein, sie würden mich nicht aufhalten können.
Leise stand ich von dem weichen Bett auf und schlich aus dem Zimmer.
Die Tür hinter mir schließend spähte ich durch den Raum und erkannte im Dunkeln meine Stiefel, meinen Mantel und meine Handschuhe auf einem Stuhl liegen.
Mit größer Vorsicht tastete ich mich nach und nach durch den Raum, bis ich den Stuhl mit meinen Händen berühren konnte.
Der weiche Stoff kribbelte einen Augenblick in meinen Händen, als ich mir den Mantel überzog und so leise wie nur möglich in meine Stiefel schlüpfte.
Mein Herz schlug panisch gegen meine Rippen, als ich auf eine Holzlatte trat und es kurz knarrte.
Oh nein!
Mit großen Augen starrte ich zur Tür, die ins Schlafzimmer führte.
Keine Geräusche waren zu hören.
Lyan und Pakka schliefen noch.
Etwas erleichtert zog ich mir meine Handschuhe über und schlich dann leise zur Haustür.
Zu Gott betend, dass die Tür nicht quietschte, öffnete ich sie und schon blies mir die kalte Nachtluft um die Nase.
Einige Öllampen im Lager leuchteten mystisch und spendeten leichtes Licht.
Keine der Assassinen schien wach zu sein, bis auf die Wache, die am Tor saß.
Ich schloss die Haustür hinter mir und lief dann schnell in den dunklen Schatten, damit keiner, der möglicherweise doch noch wachen Assassinen mich sofort sah.
Kurz überlegte ich, was ich als nächstes tun sollte.
Am besten wäre es wahrscheinlich mir eines der Pferde zu nehmen, auch wenn ich keine guten Erfahrungen hatte, was das Reiten betraf.
Doch mit einem Pferd wäre ich einfach schneller unterwegs.
So lief ich durch den leise knirschenden Schnee zur Pferdeweide, wo die Tiere beieinander standen.
Soforter blickte ich Belle, die gerade etwas Heu fraß und mich aus ihren sanften braunen Augen ansah.
Sie würde ich nehmen.
Belle kannte ich und sie war sehr sanft, was in mir ein gutes Gefühl aufsteigen ließ.
Von einem Nagel an der Wand nahm ich eines der dicken Seile, die die Assassinen verwendeten, um die Pferde zu führen, dann öffnete ich das Tor zur Weide.
,,Hallo, Belle." flüsterte ich.
Die Stute sah mich nur an und kaute weiter auf ihrem Heu herum, entspannt, wie nach einem warmen Bad.
Schnell legte ich dem dunklen Tier den Strick um den Hals.
,,Komm mit." flüsterte ich wieder und ging voran.
Das Pferd gehorchte, ohne scheu und so konnte ich beruhigt das Tor zur Weide wieder schließen, nachdem sie und ich draußen waren.
Jetzt musste ich nur noch an der Wache vorbei.

𝕾𝖓𝖔𝖜 𝖋𝖆𝖑𝖑𝖎𝖓𝖌 (Omega X Omega) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt