Chapter 39.

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Ich folgte Lyan durch den hohen weißen Schnee, der über Nacht ins Lager gefallen war und nun alle Wege und die Dächer der Häuser bedeckte.
Die gesamte Atmosphäre wirkte viel wacher und fröhlicher, als vor einer halben Stunde.
Viele der Assassinen waren erwacht, trafen sich mit Freuden zum Frühstück oder holten Holz für die Kamine und Feuerstellen.
Auch einige Kinder tollten bereits im Schnee herum, warfen sich mit Schneebällen ab oder hatten sich auf den Boden gelegt, um Schneeengel zu formen.
Leichter Schnee fiel vom Himmel und tauchte alles in eine märchenhafte und ruhige Stimmung.
Einfach wunderschön.
Ich sah mich mit strahlenden Augen um.
Ich liebte den Winter so sehr.
Das leichte knirschen des Schnees, die wunderschönen Flocken, die kuschelige Atmosphäre am Lagerfeuer oder im Haus auf der Couch.
Winter war wirklich die schönste Jahreszeit.
Besonders, weil die kleinen hübschen Kristalle in Lyans schwarzen Haaren wie Diamanten glänzten.
Ich seufzte innerlich und sah mich weiter um.
Die kühle Morgensonne brachte den Schnee und die Eiszapfen an den Dächern zum schimmern.
Mein Atem stieg in kleinen Wölkchen empor zum hellgrauen Himmel.
Dezember.
Meine Mutter hatte mir immer vom Fest der Liebe und Freude erzählt, welches man am 24. Dezember feierte.
Weihnachten oder für die Gläubigen Heiligabend und die Geburt Christi.
Man merkte auch hier im Lager eine festliche Stimmung.
In den Fenstern der Häuser sah man oft hübsche rote Tücher mit goldenen Verzierungen und kleine Holztierchen.
Ich drehte leicht den Kopf, als ich bemerkte, dass Lyan mich ansah.
Es war ein sanfter und warmer Blick, der in seinen Augen leuchtete.
Augenblicklich fühlte ich Wärme auf meinen Wangen.
Wie lange hatte er mich schon so angesehen?!
Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, bekam aber nur ein Lächeln zurück.
Etwas verwirrt folgte ich ihm weiterhin.
Mir fiel auf, dass wir bisher auf keines der Häuser zugesteuert waren, sondern den Wohnteil mehr zu verlassen schienen.
Wollten wir die Blumen nicht zu Winifred bringen?
Sie wohnte doch sicher in einem dieser Häuser, oder nicht?
Ich hatte keine andere Wahl, als Lyan zu folgen.
Er wusste sicher, was er hier tat.
Oder auch nicht?
Wollte er etwa das Lager verlassen?
Wohnte Winifred außerhalb des Lagers?!
Es musste so sein, da wir nun hinter der Pferdeweide den verschneiten Wald betraten.
Einige Tiere hatten ihre Fußspuren im blütenweißen Schnee hinterlassen.
Es raschelte und knirschte etwas unter unseren Schuhen, als wir einen Weg entlang liefen, der eigentlich aus Stein bestand, jedoch komplett zugeschneit war.
,,W-Wo gehen wir denn hin?" fragte ich den hübschen Omega unsicher.
Mir kam das alles hier etwas seltsam vor.
Lyan lächelte wieder.
,,Keine Angst, du wirst es gleich verstehen." erwiderte er.
Etwas Angst hatte ich schon.
Schließlich befanden wir uns hier außerhalb des Lagers in einem Wald.
Und wir waren allein!
Wer würde da nicht nervös werden?
Der steinige Weg bog sich etwas nach unten auf eine etwas tieferliegende Lichtung.
Hier befand sich nicht so viel Schnee, da die großen Bäume diesen mit ihren Ästen abgefangen hatten.
Mein Blick fiel auf eine große, symmetrische Anordnung von geschliffenen Steinen, die aus dem Boden ragten.
Vor einigen von ihnen lagen Blumen oder Bänder in verschiedenen Farben.
Ein Friedhof.
War Winifred etwa bereits verstorben?
Vielleicht war ja Winifred Lyans Mutter oder Oma?
,,Damit hast du nicht gerechnet, hm?" fragte mich der schwarzhaarige Omega.
Ich schüttelte leicht den Kopf.
,,Nicht wirklich." erwiderte ich und folgte ihm weiter den Weg runter auf die Lichtung.
Mit großen Augen betrachtete ich die ordentlichen Steine, die aus dem Boden stachen.
Auf einigen von ihren waren Namen eingeschlagen worden, sowie Lebensdaten.
Mary Willow, 01.08.1788 – 27.01.1801.
Eine Omega, die gerade mal mit 13 Jahren verstorben war.
Matthew Johnson, 15.04.1796 – 13.11.1807
Ein Beta, der nur einen Tag nach mir geboren wurde und mit 11 bereits dahingeschieden war.
Diese Leute hier, waren alle so früh verstorben.
Viele als kleine Kinder aber auch welche als junge Erwachsene.
,,Diese Kinder hier starben fast alle an der Krankheit, die das Lager von 1801 bis 1808 heimgesucht hat. Erst als die Mediziner ein Heilmittel herstellen konnten, wurden die Todesfälle weniger." erklärte Lyan kurz und lief dann auf einen recht kleinen Stein zu.
Er war noch ganz hell und sah so frisch aus, als wäre die Person erst vor Kurzem gestorben.
Ich lief hinter Lyan her und sah auf den Stein, in dem ein kleiner Engel eingemeißelt war.
Winifred Balewa-Walker, 19.09.1814 – 19.09.1814.
In diesem Moment realisierte ich, wer Winifred war.
Ein Baby, geboren und verstorben am gleichen Tag vor vier Monaten.
Lyans Tochter.
Eine plötzliche Schwere lag tief in mir.
Lyan hatte seine Tochter direkt nach der frühzeitigen Geburt verloren und ehrte ihr mit diesem Stein.
Ich musste leicht schlucken.
Wie musste sich Lyan gefühlt haben, als er sie verloren hatte?
,,Sie...Sie ist deine Tochter." hauchte ich leise.
Lyan drehte den Kopf, nickte und hockte sich dann runter, um den Schnee vom Gab zu entfernen.
,,Ich denke mal Noëlle hat dir von meiner Schwangerschaft erzählt?" fragte er.
Ich trat etwas näher.
,,Nur, dass du missbraucht wurdest und das Kind nach der Geburt verstorben ist." erwiderte ich.
Lyan nickte noch einmal und sah zum Grabstein.
,,Vor ein paar Tagen wäre der ursprüngliche Geburtstermin gewesen. Die Wehen setzten bei mir viel zu früh ein. Ich habe ab diesen Moment sofort gewusst, dass sie nicht lange leben würden." erklärte er.
Noëlle hatte mir bereits erzählt, dass das Baby viel zu früh auf die Welt kam.
Ich sah zu Lyan und merkte den Schmerz, den er beim Gedanken an seine Tochter verspürte.
Das was er erleben musste, wünschte man niemanden.
Und dennoch stellte ich mir eine ganz bestimmte Frage.
,,Wie hast du es geschafft, sie zu lieben, so wie du es jetzt tust? Ich meine, sie war nicht gewollt und dann auch noch von Valentin."
Es war die Frage, die ich mir selber stellte.
Wie konnte ich dieses Kind in mir lieben?
Es war nicht gewollt und dann auch noch von Kamil.
Lyan drehte den Kopf zu mir.
Seine Rubinaugen glänzten leicht.
,,Weißt du, ich habe mich das auch gefragt. Ich habe recht früh bemerkt, dass ich ein Kind in mir trug und trotzdem ist nach Alis Bestätigung die Welt für mich zusammengebrochen. Ich war nicht bereit für sie und ich wollte sie nicht, weil sie mir aufgezwungen wurde." hob er an und erhob sich wieder.
,,Die ersten paar Monate waren für mich schrecklich, weil ich nicht wusste, was ich anstellen sollte. Doch, als es dann langsam sichtbar wurde, dass ich ein Kind erwartete, hat sich bei mir quasi ein Schalter umgelegt und ich empfand plötzlich Zuneigung. Als ich dann die ersten Bewegungen spüren konnte, habe ich mich direkt in sie verliebt." ergänzte er.
Ich hörte ihm gespannt zu.
,,Aber musstest du trotzdem nicht die ganze Zeit auch an Valentin denken und dass das Kind von ihm ist?" fragte ich weiter.
Lyan lächelte.
,,Ich habe es irgendwann ausgeblendet. Valentin wollte nichts mit dem Baby zu tun haben. Auch habe ich mir immer gesagt, dass mein Kind niemals so sein wird wie er. Wenn mich jemand gefragt hat, wer der Vater sei, habe ich mit es hat keinen Vater geantwortet. " erwiderte er.
Das schien durchaus schlau zu sein.
Schließlich ging es auch niemanden etwas an, wer der Vater war und wer nicht.
,,Und weißt du was das aller schönste war?" fragte mich Lyan.
Ich sah ihn fragend an.
Der Omega grinste.
,,Sie sah kein bisschen aus, wie er. Sie war ein totales Mini-Me."
Ich musste schmunzeln.
Lyans Tochter war mit Sicherheit wunderschön gewesen.
Schließlich war Lyan selbst unglaublich hübsch und wenn Winifred aussah, wie er, dann war sie eine echte Schönheit gewesen.
Etwas betrübt dachte ich an mein eigenes Kind.
Es würde zu 100% aussehen, wie Kamil, das wusste ich jetzt schon.
Bräune Haare und dunkle Augen.
,,Mein Kind wird kein Mini-Me sein." meinte ich und reichte Lyan die Blumen.
Er sah mich fragend an.
Ich seufzte leise.
,,Ich, als White-Rose-Syndrom-Träger, bei dem es ausgebrochen ist, kann meinen Kindern keinen Anteil meines Aussehens weiter vererben. Erst mein Ur-Urenkelkind würde so aussehen, wie ich. Also wird das Kind hier wie Kamil aussehen." erklärte ich kurz und merkte, wie doof das eigentlich war.
Meine Kinder würden wirklich gar nichts von mir bekommen, was das Aussehen betraf.
Lyan nickte verstehend.
,,Es wird aber nicht Kamil sein, verstehst du? Es wird seine ganz eigene Persönlichkeit haben. Und wer weiß, vielleicht bekommt es ja von deinen Eltern etwas. Zum Beispiel blaue Augen oder weiße Haare." erwiderte er und lächelte aufmunternd.
Ich lächelte dankbar.
Er wusste, wie man einen wieder aufmuntern konnte.
Lyan legte den Strauß Blumen aufs Grab seiner Tochter, dann gesellte er sich an meine Seite.
Eine Weile standen wir da und betrachteten den Stein und die Blumen, sowie den Schnee drum herum.
Es sah so schön aus, was einen schmerzte aber auch gleichzeitig tröstete.
Lyan hatte Winifred sehr geliebt, das sah man sofort.
Die Auswahl des Steines, der Ort des Grabes, der kleine Engel in dem Stein und die Blumen.
Er hatte sie geliebt.
Vielleicht würde ich durch diese Erkenntnis und durch meine Beziehung zu Lyan auch irgendwann anfangen dieses kleine Wesen in meinem eigenen Bauch zu lieben. 

𝕾𝖓𝖔𝖜 𝖋𝖆𝖑𝖑𝖎𝖓𝖌 (Omega X Omega) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt