Chapter 77.

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Mit dem Wissen, dass meine Mutter verstorben war, schloss sich in mir eine Lücke.
Ein Puzzleteil wurde ergänzt.
Ein Rätsel gelöst.
Und trotzdem war da diese Leere.
Diese tiefe Leere, die einen mit sich riss und ertränken wollte, in einem See aus vielen verschiedenen Gefühlen.
Angst.
Trauer.
Verzweiflung.
Aber auch Erleichterung.
Diese Suppe aus Emotionen in mir, ließen die Rückfahrt zum Lager stumm und einsam wirken, auch wenn Lyan direkt neben mir saß und mich mit seinen schönen besorgten Augen ansah.
Ich wusste nicht, wie genau ich mit dem Wissen über den Tod meiner Mutter leben sollte.
Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte und ich wusste nicht, was ich denken sollte.
Es war ein pures Chaos in meinem Kopf und gleichzeitig eine merkwürdige Stille.
Ich wusste nichts mehr.
Hinzu kam das immer noch seltsame Verhalten meiner Schwester.
Gerade jetzt war es eine Qual, dass sie sich immer mehr entfernte.
Ich hatte nur noch sie als meine Familie.
Unseren Vater wollte ich nicht kennenlernen.
Wenn es stimmte und er seine Frau mit meiner Mutter betrogen hatte, war er jemand den ich nicht kennen wollte.
Ich konnte mit dem Gedanken leben, ihn nicht zu kennen.
Es würde mir nichts bringen.
Außer vielleicht einen weiteren Erbanteil, den ich nicht gebrauchen konnte.
Ich wollte ihn nicht kennen und er sollte auch niemals von mir erfahren.
Als wir ins Lager der Assassinen zurückkehrten, schien der Himmel ebenfalls für meine Mutter zu weinen.
Graue Wolken hatten sich den Himmel entlang geschoben und schon bald fielen die ersten Tropfen auf die weiche Erde und auf die frischen Stängel des Grases und der Farne.
Es regnete.
Regen, in Form kleiner Tropfen, sprangen aus ihren Wolkenbetten und besprenkelten jeden kleinen Halm, jeden kleinen Stein, jedes kleine Sandkorn.
,,Lasst uns schnell rein gehen, bevor wir uns erkälten." hörte ich meinen Partner zu meiner Schwester sagen, während beide die letzten Körbe aus der Kutsche räumten, damit einer der Assassinen sie und die Pferde zum Unterstand bringen konnte.
Ich blickte hoch in den finsteren Himmel.
Das leichte Wasser perlte an meinen Haaren hinunter und auf mein Gesicht, kühlten in ihrer Feuchtigkeit die Stellen und durchnässten den Stoff meines Kleides.
Es war ein erfrischender Regen.
Ein Regen, der alles verschwamm und weg wusch.
Ich hörte, wie die kalten Tropfen auf den Rasen, in die Regenrinne und in die Pfützen fielen.
Geräusche, die so angespannt und gleichzeitig beruhigend waren.
,,Dai, kommst du?" fragte Lyan.
Ich drehte meinen Kopf zu dem hübschen Omega, der mich völlig durchnässt mit einem verwirrten Blick ansah.
Regentropfen hatten sich in seinen weichen schwarzen Locken gesammelt und liefen über seine Wangen.
Sie wuschen den vergangenen Tag weg.
Ich musste bei seinem bezaubernden Anblick meine Mundwinkel ein wenig anheben.
,,Noch nicht." erwiderte ich schließlich.
Nur einen kurzen Augenblick.
Ich wollte diesen Moment genießen.
Diesen Regen.
Die Tropfen, die die Vergangenheit abwuschen, einen erfrischten und neues Leben einhauchten.
Ich streckte meine Arme seitwärts aus, richtete mein Gesicht zum grauen Himmel und schloss die Augen.
Keine Perlen fielen auf meine Wimpern, benetzten meine Wangen.
Warum war dieser Regen so befreiend?
Weil er alle Sorgen mit sich unter die Erde nahm.
Er erstickte sie.
Schon bald würde der Regen nachlassen und die herrlichen Blumen am Wegesrand und in Lyans Garten würden wieder ihre Blüten öffnen und jedem farbenfrohe Hoffnung schenken.
Ich fühlte, wie sich eine warme Hand an meine Hüfte legte und spürte sofort die Sanftheit und Fürsorge meines Partners um mich herum.
,,Was machst du?" fragte er, immer noch sichtlich verwirrt.
Ich lächelte leicht und ohne etwas zu erwidern, berührte ich mit meiner Hand seine nasse Wange und legte meine Lippen auf seine.
Die Wasserperlen ließen sie feucht und kühl wirken, doch schnell kehrte die Wärme in ihnen zurück, als sie meine berührten.
Der hübsche Omega legte beide Arme um mich und drückte meinen Körper enger an seinen.
Wohlige Wärme glühte auf meiner Haut, während der Regen weiterhin auf uns herabfiel.
Ich liebte ihn.
Ich verehrte ihn.
Ich schätzte ihn.
Und dennoch wusste ich einen wichtigen Teil über Lyan nicht.
Seine Vergangenheit.
Seine Zeit als Mouskeeba Balewa.
Wer war diese Person gewesen?
Was hatte sie erlebt?
Hatte ich überhaupt ein Recht darauf es zu erfahren?
Lyan hatte seine Vergangenheit auf dem Sklavenmarkt hinter sich gelassen.
Würde er sich öffnen und mir von ihr erzählen?
Der schöne schwarzhaarige Omega lehnte seine warme Stirn gegen meine, als wir uns lösten.
,,Ich werde manchmal wirklich nicht schlau aus dir. Ich meine, wer steht freiwillig im Regen und lässt sich von oben bis unten durchnässen?" meinte er.
Ich schmunzelte ein wenig und strich mit meiner Hand durch seine schwarzen Locken.
Er sah so schön aus, auch wenn er nun völlig nass war.
,,Der Regen hatte eine befreiende Wirkung auf mich. Ich wusste nicht, wie ich mit dem Tod meiner Mutter umgehen sollte. Hinzu kommt, dass Noëlle schon wieder so komisch ist und mir das so auf den Keks geht. Aber jetzt, wo ich eindeutig klitschnass bin, fühle ich mich besser und irgendwie befreit." erklärte ich.
Lyan löste seine Stirn von meiner und blickte mich sanft mit seinen Rubinaugen an.
Ich warf einen liebevollen Blick zurück, während er eine meiner weißen Haarsträhnen hinter mein Ohr strich.
,,Ich hoffe, dass du schnell deinen Frieden findest, bei dieser Sache. Ich weiß, es hört sich blöd an, aber man muss loslassen, so schwer es auch ist." sagte er.
Ich nickte leicht.
Er hatte recht.
Ich musste loslassen.
Meine Mutter hatte sich ein erfülltes Leben für mich gewünscht.
Und diesen Wunsch wollte ich ihr erfüllen.
Lyan beugte sich vor zu meinem Ohr.
,,Ich glaube ich sollte dich erinnern, dass du ein weißes Kleid trägst, welches bei Nässe durchsichtig wird und man somit deine Unterwäsche durchschimmern sehen kann." flüsterte er.
Ich lief augenblicklich rot an und mir wurde heiß vor Scham.
,,Warum hast du das nicht gleich gesagt?! Schnell rein!" erwiderte ich und zog ihn an seiner Hand mit ins Haus, wobei er nur lachte.
Mensch, Lyan!
Das war so peinlich!
Doch gleichzeitig wurde ich von seinem fröhlichen Lachen angesteckt und konnte somit selbst über die unangenehme aber lustige Situation lachen.
Denn mit Lyan lachte ich am liebsten.

𝕾𝖓𝖔𝖜 𝖋𝖆𝖑𝖑𝖎𝖓𝖌 (Omega X Omega) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt