58 - Verräter

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Am nächsten Tag durfte ich bereits wieder nach Hause gehen, doch zu erst wollte Ilka noch mit mir reden.
Ich saß bereits angezogen auf der Liege und der Doc war so nett und hat mir wieder einen warmen Tee gebracht. Ilka blätterte in einem Notizbuch bis sie irgendwann die richtige Seite mit einem übertriebenen Seufzen aufschlug.

Ich wusste, dass sie meine Entscheidung nicht guthieß und dass sie nur widerwillig recherchiert hatte, weil sie wollte, dass ich das Kind behielt. Wahrscheinlich nicht nur wegen reiner Nächstenliebe. Sie wollte natürlich das Baby eines degradierten Omegas heranwachsen sehen und die Geburt miterleben.
Dennoch wusste ich, dass sie sich bei dieser Recherche ins Zeug gelegt hatte, immerhin war dieses traurige Thema wieder etwas was ihr Omega-Wissen erweiterte.

»Also Finn.« Ihre aufgeweckte und aufgedrehte Art von gestern war nur mager zu erkennen, was vor allem wohl an ihrem fehlenden Schlaf lag. Sie war die ganze Nacht wach um in ihren Büchern zu schmökern um mir zeitnah eine Rückmeldung geben zu können. »Bevor ich dir jetzt die Optionen darstelle, möchte ich, dass du nochmal tief in dich gehst. Ist das wirklich das was du möchtest?«

Nein.
Ich wollte mein Kind nicht ermorden.

Hätte ich die Wahl, dann wüsste meine Mutter bereits seit gestern, dass sie Großmutter werden würde.
Aber ich hatte nun mal nicht die Wahl. Entweder Eliah, mein Gefährte, oder dieses ungeborene Kind, das noch keinerlei Ähnlichkeit zu einem Menschen hatte.

»Ja.«

Ein trauriger Schatten legte sich auf Ilkas Augen, ehe sie langsam nickte. Ich konnte beobachten, wie ihre Hände leicht zitterten als sie ihr Büchlein zur Hand nahm und tief Luft holte.

»Viele Optionen gibt es nicht. Ich habe einen Weg gefunden, wie man die Schwangerschaft im frühen Stadium beenden kann, aber erstens ist diese Methode kaum erforscht und hat zweitens nur wenige Erfolgschancen. Man kann eine Omegaschwangerschaft nicht mit der einer Frau vergleichen, deswegen kann man auch nicht die üblichen Methoden anwenden.« Ihre Stimme war leise und sie sah mich kein einziges Mal an während sie sprach.
Es war beinahe so als wäre es ihr Kind, das ich gerade abtreiben wollte und nicht Eliahs.

»Was bedeutet wenige Erfolgschancen?« Meine Stimme klang genauso wie Ilkas. Leise, traurig und matt.

Die Rothaarige wechselte einen Blick mit dem Doc, der auf einem Stuhl etwas abseits von uns saß.

»Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Schwangerschaft nicht beendet wird und das Kind dann eventuell mit einer Behinderung auf die Welt kommt.«

Panik durchzuckte meinen Körper und ich konnte bereits wieder spüren, wie meine Atmung sich verschnellerte.
Ich wollte meinem Kind nicht die Möglichkeit auf ein gesundes Leben nehmen. Mord war eine Sache, aber Verstümmelung?
Ich könnte nicht damit leben, wenn ich Schuld am Leid meines eigenen Kindes hätte.

»Und wenn die Schwangerschaft erfolgreich beendet wurde, gibt es keine Möglichkeit mehr erneut schwanger zu werden.«, fügte Ilka leise hinzu und strich die Seite ihres Notizbuches glatt.

Ich musste mich also zwischen keinem Kind und einem höchstwahrscheinlich geistig- oder körperlich unterentwickeltem Kind entscheiden. Oder einem Leben ohne Eliah.
Keine rosigen Aussichten.

»Du musst die Entscheidung nicht sofort treffen. Mach dir deine Gedanken, Finn, und vertraue auf dein Herz und dein Bauchgefühl. Vielleicht möchtest du dich auch erst noch mit dem Vater abstimmen.« Ein kleines Lächeln erschien auf ihren pinken Lippen.
Als jedoch keine Regung von mir kam, fuhr sie fort. »Hast du das Bild gesehen, dass ich dir hingelegt habe?«

Ihr Blick ging suchend über den Beistelltisch, doch sie würde das Bild nicht finden.
Als ich heute Morgen von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, hatte ich das Bild meines Kindes vom Boden aufhoben und so lange angestarrt bis ich eine Regung im Haus wahrnehmen konnte.

Degradierung - vom Beta zum Omega ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt