Kapitel 3

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„Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde!" Henna ließ sich mit einem müden Grinsen neben ihm auf die Mauer sinken. Sam zuckte nur mit den Schultern und sah zu wie die erste Röte langsam über den Horizont kroch und die Dämmerung die Konturen der Landschaft aus der Dunkelheit schälte. Er kam gerne hierher, auf die Zinnen der Palastmauer. Von hier aus hatte man einen herrlichen Ausblick über die Stadt und das umliegende Land. Wenn er hier oben saß und hinaus blickte in die Weite, erinnerte er sich daran, wie viel größer die Welt war als die Küche, in der er Tag und Nacht lebte, ihm vorgaukeln wollte.
„Warst du jemals außerhalb der Stadtmauern, Henna?", fragte er verträumt und sie lehnte müde den Kopf gegen seine Schulter. Ihr langes braunes Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst, den sie in der Nacht nur hastig gebunden hatte und fiel ihr wie ein Schleier übers Gesicht.
„Hmm", brummte sie nur und er lächelte schwach.
„Ich frage mich wie es wohl ist. Denkst du es macht einen Unterschied? Denkst du, es ist zum Beispiel in Zenon anders als hier in Abeno? Oder gleicht eine Stadt der anderen? Und warst du jemals in einem Wald? Ich meine so richtig weit drin, wo es nichts mehr gibt als lauter Bäume? Ich frage mich manchmal, ob die Berge am Horizont wirklich so riesig sind, wie Timmy behauptet. Ich meine, von hier sehen sie auch nicht viel höher aus als die Hütte meiner Tante."
Henna prustete leise.

„Timmy hat keinen blassen Schimmer. Er ist ein nichtsnutziger Stallbursche", erklärte sie nur. „Und du hast nicht einmal genug Mumm dich gegen Hogart zu behaupten, warum glaubst du, du könntest da draußen auch nur einen einzigen Tag überleben?" fuhr sie unbeirrt fort und kuschelte sich noch ein bisschen näher an ihn. Sam seufzte nur und spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. Sie hatte ja Recht. Er war genauso ein Nichtsnutz wie Timmy.
„Das hab ich nicht gesagt!", fuhr sie auf und saß plötzlich kerzengerade neben ihm. Erst da wurde ihm klar, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Timmy könnte auch nicht anders, wenn er wollte, aber du... manchmal frage ich mich wirklich, worauf du eigentlich wartest!"

Sam wich ihrem bohrenden Blick aus.

„Hey!", unterbrach ein Ruf seine trübseligen Gedanken und hinter ihnen waren lange Schritte hörbar. Sam versteifte sich unwillkürlich, als ein großer, breitschultriger Mann in schmutziger Reisekleidung sich neben ihm gegen die Zinnen fallen ließ und sie unter seinem dichten Bart rundheraus angrinste.
„Was muss ein Mann tun, um etwas von dem Essen abzubekommen, das ihr letzte Nacht für seine Majestät und den geschätzten Botschafter gekocht habt?"
Sam starrte ihn nur unbeweglich an, doch Henna funkelte so unverschämt zurück, wie es ihre Art war.
„Ihr meint das Essen, für das wir uns so sinnlos die Nacht um die Ohren schlagen mussten?"
Der Hüne runzelte überrascht die Stirn, konterte aber genauso schnell: „Eigentlich spreche ich von dem Essen, für das ihr so hingebungsvoll die kostbaren Stunden eures kurzen wohlverdienten Schlafes geopfert habt, aber im Prinzip ist mir alles Recht, was mir nach zermürbenden Verhandlungen, der Sturm gepeitschten See und einem mörderischen Ritt durch die Nacht den Magen füllt."
Henna schlug kokett die Augen nieder und ihre Wangen glühten auf. Die meisten würden es wohl für Verlegenheit halten, aber Sam wusste es besser. Als sie den Blick wieder hob, beleuchtete er den Mann abschätzend und verweilte an einigen Körperstellen länger als an anderen. Dem Fremden war die Musterung weder entgangen noch schien sie ihm unangenehm, doch dann sagte Henna etwas, das Sam das Herz zum Stocken brachte.
„Erzählt meinem Freund Sam von den Bergen und ich bringe euch etwas zum Essen", forderte sie unbeeindruckt und ihr Blick hielt dem des Mannes spielerisch stand. Der zuckte nur mit den Schultern, warf die Beine über die Mauer und fragte: „Was willst du wissen?"
Sam hörte kaum etwas neben dem Pochen in seinen Ohren und er wünschte sich vor Verlegenheit im Boden zu versinken. Als er nichts erwiderte, sprang Henna ein weiteres Mal für ihn ein.
„Fangt damit an, wie hoch sie sind", schlug sie vor und stapfte mit zufriedenem Gesicht davon, um ihren Teil des Handels einzuhalten.
„Stell dir vor, du gehst meilenweit, aber nicht geradeaus, sondern nach oben, direkt gen Himmel. So hoch sind die Berge. Das Riesengebirge gehört zu den höchsten und undurchdringlichsten. Kein Mensch kann es durchwandern, aber ich kenne jemanden, der es trotzdem geschafft hat, es ins Wanken zu bringen."

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt