Kapitel 105

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Adalor saß in seiner Zelle, die Augen geschlossen, den Kopf an die kalte Mauer hinter sich gelehnt, als die Welten begannen zu fallen. Er spürte das Beben durch seine Knochen vibrieren, hörte das Krachen der einstürzenden Burg, die panischen Schreie der Menschen. Er öffnete die Augen und wartete...

Als der Abgrund sich neben ihm auftat, glitt ein vages Lächeln über seine Züge. Das Flüstern der Schwärze züngelte zu ihm herauf, strich ihm kalt über die Glieder. Adalor holte tief Luft. Dann stieß er sich vom Boden ab und sprang ohne zu zögern in die Tiefe.

Es dauerte Stunden, bis Aurora sich annähernd beruhigte. Stunden, in denen das Chaos im Lazarett sich langsam zu einem gut organisierten Betrieb wandelte. Dank Oliver und Anuba und zahlreicher helfender Hände. Gorjak leistete Taos Gesellschaft, der Aurora hielt und tröstete. Sotie schlief neben ihm, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Ein Wunder, das er immer noch nicht ganz begreifen konnte. Er hatte das Schwert gesehen, das ihr Herz durchbohrt hatte, hatte das Blut gesehen, das ihre Kleider getränkt hatte. Sukan war fassungslos neben ihm aufgetaucht und dann war da Anna gewesen. Er hatte Oliver schon oft beim Heilen zugesehen. Oft genug, um zu wissen, dass eine tödliche Wunde wie Soties zuviel Kraft benötigte, um geheilt zu werden. Kraft, die weder dem Verwundeten selbst noch Oliver in diesem Maße zur Verfügung stand. Doch Anna hatte sie nur berührt und... er seufzte und sein Blick glitt von Sotie zu Anna. Ihr Gesicht war verzerrt, die schwarzen Adern sahen furchtbar aus. Sie war so blass, so... tot.

„Sie wird es schaffen!", murmelte Taos und Gorjak sah den König an. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen, sein Gesicht von Sorgenfalten zerfurcht. „Sie ist nicht allein. Aric wird ihr helfen."

Gorjak würde es gerne glauben. Aber es fiel ihm schwer. Nach all der Zerstörung, die er gesehen hatte, wie sollte Anna das wieder in Griff bekommen? Nein, Gorjak glaubte schon lange nicht mehr an ein Happy End.

Ein Schatten fiel über sie und Gorjak sah, wie Anuba sich neben dem Körper ihres Bruders niederließ. Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln und strich Aric zärtlich übers Haar. Dann wandte sie sich Anna zu, begann ihr mit einem feuchten Lappen den Schweiß von der Stirn zu tupfen und leise vor sich hinzusummen. Aurora krabbelte von Taos' Schoss und schmiegte sich stattdessen in die Arme der jungen Frau. Sie drückte das Mädchen und reichte ihr dann einen zweiten Lappen.

„Willst du mir helfen?", fragte sie freundlich und Auroras Augen strahlten, als sie nach dem Tuch griff und ihrer Mutter Hände und Arme wusch. Taos beobachtete die beiden mit Tränen in den Augen.

„Als Aric noch klein war, war er schon einmal sehr krank. Ich habe ihn bewusstlos am Waldrand vor unserem Haus gefunden und er glühte förmlich vor Fieber. Ich weiß bis heute nicht, was ihm eigentlich fehlte, aber meine Mutter und ich wachten tagelang an seinem Bett. Wenn das Fieber zu stark wurde, habe ich ihn mit feuchten Tüchern gekühlt. Genau so", begann sie zu erzählen und legte Anna ihr Tuch auf die Stirn. „Es hat ihn beruhigt, wenn er sich durch seine Fieberträume quälte. Wir hatten große Angst um ihn, denn selbst als das Fieber irgendwann nachließ, hat er sich lange Zeit nicht recht erholt. Und obwohl sein Körper irgendwann wieder erstarkte, sein Geist blieb verwirrt, wandte sich von uns ab. Er wurde immer stiller und egal, was ich tat, ich konnte nicht zu ihm durchdringen. Bis zu jener Krankheit war dein Vater ein fröhliches aufgewecktes Kind. Doch dieses Fieber nahm ihm die Freude, es nahm ihm die Ausgelassenheit. Er wurde verschlossen und ernst und manchmal sah ich es in seinen Augen aufblitzen – als wüsste er mehr über diese Welt als jeder andere. Und als würde ihn diese Last regelrecht erdrücken. In diesen Momenten wirkte er auf mich wie ein uralter Mann, obwohl er erst elf Jahre alt war. Ich dachte es würde ihm guttun, die Welt zu sehen, sich zu stählen und auf diese Weise der Angst zu begegnen, die ihn verfolgte. Deshalb ließ ich ihn ziehen, als mein Onkel ihn mit zu den Kriegern nahm. Doch als ich ihn jetzt im Gruven-Moor wiedersah, da war dieser Ausdruck immer noch da. Diese Last so schwer auf seinen Schultern, dass ich sie mit bloßen Augen sehen konnte. Heute glaube ich, Aric hat schon damals gespürt, was sein Schicksal sein würde. Ich denke, dieses Gefühl hat ihn ein Leben lang getrieben – direkt in die Arme des Serafin. Es muss einen Grund dafür geben. Und obwohl ich Angst um ihn habe, glaube ich, dass er genau jetzt, genau hier, dabei ist, sein wahres Schicksal zu erfüllen. Und vielleicht kommt er danach zurück zu mir. Vielleicht kommt etwas von dem Kind, das er einst gewesen ist, ja mit ihm zurück."

Die Raben des KönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt